Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Der Trotzkopf
(Emmy von Rhoden, 1885, empfohlenes Alter: 10 - 12 Jahre)

Kapitel 8

Weihnachten rückte heran und fleißig rührten sich aller Hände. Da wurde genäht, gestickt, gezeichnet, Klavierstücke wurden eingeübt, um die Eltern oder die Angehörigen liebevoll zu überraschen.

Ilse hatte noch niemals den Vater oder die Mutter mit einer Arbeit erfreut. Zuweilen hatte sie eine kleine Arbeit angefangen, auf dringendes Zureden ihrer Gouvernanten, aber sie war nicht weit damit gekommen. Sie habe einmal kein Geschick dazu, behauptete sie, und dachte nicht daran, daß es ihr nur einfach an Geduld und Ausdauer mangele.

»Was willst du deine Eltern geben?« fragte Nellie, die eifrig dabei war, einen sterbenden Hirsch in Kreide zu zeichnen, er sollte ein Geschenk für den Onkel in London werden, der sie im Institute ausbilden ließ.

»Ich habe noch nicht daran gedacht,« entgegnete Ilse. »Meinst du, Nellie,« fügte sie nach einigem Besinnen hinzu, »daß die Rose, die ich jetzt zeichne, dem Papa Freude machen würde?«

»O sicher! Aber du mußt sehr fleißig sein, mein klein’ Ilschen, sonst wird die liebe Christfest kommen und du bist noch lang nicht fertig. Und was willst du deine Mutter geben?« fragte Nellie.

»Meiner Mama?« Sie dehnte ihre Frage etwas in die Länge. »Ich werde ihr etwas kaufen,« sagte sie dann so obenhin.

Nellie war nicht damit zufrieden. »Kaufen, das macht keine Freude!« tadelte sie. »Warum wollen deine Finger faul sein?«

»Nellie hat recht,« mischte sich Rosi in das Gespräch, die neben Ilse saß und an einer altdeutschen Decke arbeitete. »Deine Mama wird wenig Freude an einem gekauften Gegenstand haben.«

»Ich bin zu ungeschickt,« gestand Ilse offen.

»Wir werden dir helfen und dir alles gern zeigen,« versprach Rosi. Und Fräulein Güssow, die grade hinzutrat, benahm Ilse den letzten Zweifel.

»Du kannst ein gleiches Nähkörbchen, wie Annemie anfertigt, arbeiten, ich weiß bestimmt, es wird dir gelingen.«

Und es gelang wirklich, ja weit besser, als Ilse sich selbst zugetraut. Sie hatte eine kindliche Freude, als das Körbchen so wohlgelungen in acht Tagen fix und fertig vor ihr stand.

»Es sind noch vierzehn Tage bis Weihnachten,« sagte sie zu Rosi, »und ich möchte noch etwas arbeiten, für Fräulein Güssow und Fräulein Raimar.«

»Und für meine Lori, bitt’ schön, meine gute Ilse!« bettelte Lilli, die gewöhnlich an den Mittwochnachmittagen im Arbeitssaale zugegen war und dann ihren Platz dicht bei Ilse wählte, die sie, wie sie sich ausdrückte, zum aufessen liebte. »Mein’ Lori muß halt a neues Kleiderl haben,« fuhr sie fort und hielt ihre Puppe in die Höhe, »bescher’ ihr eins zum heil’gen Christ. Schau, das alte da ist ja schlecht!«

Natürlich versprach Ilse, ihr diesen Herzenswunsch zu erfüllen, und zur Besiegelung drückte sie dem kleinen Liebling einen Kuß auf die roten Lippen.

»Ich habe eine famose Idee!« (famos war seit kurzer Zeit Modewort im Institute) rief Ilse am Abend desselben Tages aus, als sie mit Nellie allein war. »Ich kaufe für Lilli eine neue Puppe und kleide sie selbst an. Was meinst du dazu?«

»O, das ist wirklich ein famos Gedanke,« entgegnete Nellie, »aber lieb Kind, hast du auch an der viele Geld gedacht, die so ein’ Puppe mit ihrer Siebensachen kostet? Wie steht’s mit dein’ Kasse?«

»O, das hat keine Not, ich habe sehr viel Geld!« versicherte Ilse sehr bestimmt. Und sie nahm ihr Portemonnaie aus der Kommode und zählte ihre Schätze.

»Zwölf Mark,« sagte sie, »das ist mehr, als ich brauche, nicht?«

»Sie sind ein sehr schlecht’ Rechenmeister, mein Fräulein,« riß Nellie sie unbarmherzig aus ihrer Illusion, »ich mein’, Sie reichen lang’ nicht aus.«

Ilse sah die Freundin zweifelnd an. »Du scherzest,« meinte sie, »zwölf Mark ist doch furchtbar viel Geld?«

»Reicht lang nicht!« wiederholte Nellie unerbittlich, »hör zu, ich will dir vorrechnen:

1) Ein Nähtischdecken für Fräulein Raimar macht vier Mark,
2) ein Arbeitstaschen für Fräulein Güssow macht drei Mark,
3) eine schöne Geschenk für die liebe Nellie und all die andren junge Fräulein – macht – sehr viele Mark.

Wo willst du Geld zu der Puppen nehmen?«

»Ach,« fiel Ilse ihr ins Wort, »und unser Kutscher daheim und seine drei Kinder! – daran habe ich noch gar nicht gedacht!«

Sie machte ein recht betrübtes Gesicht, denn sie hatte es sich gar zu reizend ausgedacht, wie sie Lilli überraschen wollte. Nun konnte es nichts werden.

Nachdenklich saß sie einige Augenblicke, dann leuchteten plötzlich ihre Augen freudig auf.

»Halt!« rief sie aus, »ich weiß etwas! Heute abend schreibe ich an Papa und bitte ihn, mir Geld zu schicken. Er thut es, ich weiß es ganz bestimmt. Mein Papa ist ja ein zu reizender Papa!«

»Und dein’ Mutter?« fragte Nellie, »ist sie nicht auch ein’ sehr gütiger Frau? Wie macht sie dich immer Freude mit die viel’ schöne Sachen, die sie an dir schickt. Freust du dir sehr auf Weihnachten? Ja? Es ist doch schön, die lieben Eltern wieder sehen.«

Ilse zögerte mit der Antwort. Es fiel ihr ein, wie sie im Sommer ihrem Vater entschieden erklärt hatte, zum Christfest nicht in die Heimat zu reisen. Ihr Sinn hatte sich nicht geändert. Noch hatte sie den Groll gegen die Mutter nicht überwunden. Trotzdem sie sich sagen mußte und zuweilen auch ganz heimlich eingestand, wie nötig für ihr Wissen und ihre Ausbildung der Aufenthalt in einer tüchtigen Pension war, so hielt sie immer noch an dem Gedanken fest: ›Sie hat mich fortgeschickt.‹

»Ich werde hier bleiben,« sagte sie, »ich will das Weihnachtsfest mit euch verleben.«

»Das ist famos!« rief Nellie entzückt, »ich freue mir furchtbar, daß du nicht fortreisen willst! All unsre Freunde reisen auch nicht, und es ist so schön hier, die heilige Christ. – Alles bekommt eine große Kiste von Haus, mit allen Bescherung und Schokolad’ und Marzipan! – und die Christabend wird jede Kiste aufgenagelt, und ich helfe auspacken bald der eine, bald der andre.«

»Erhältst du keine Kiste?« fragte Ilse.

»Du weißt ja – ich hab’ kein’ Eltern – wer sollte mir beschenken?«

»Gar, gar nichts bekommst du?«

Ilse konnte es nicht fassen.

»Zu Neujahr schenkt mein Onkel für mir Geld, da kaufe ich mir, was ich notwendig habe.«

Ilse sah die Freundin schweigend an. Am Abend aber schrieb sie einen langen Brief in die Heimat, worin sie zuerst ihren Entschluß mitteilte, daß sie die Weihnachtstage mit den Freundinnen feiern möchte. Dann ging sie zu dem Geldmangel über und schilderte dem Papa mit vielen zärtlichen Schmeichelnamen ihre Not, und zuletzt gedachte sie mit warmen Worten Nellies. – »Noch eine dringende Bitte habe ich zum Schlusse,« fuhr sie in ihrem Briefe fort, »an Dich, Mama,« wollte sie schreiben, aber sie besann sich und schrieb: »an Euch, liebe Eltern. Meine Freundin Nellie ist nämlich die einzige in der Pension, die keine Weihnachtskiste erhalten wird. Sie ist eine Waise und steht ganz allein in der Welt. Ihr Onkel in London läßt sie zu einer Gouvernante ausbilden. Ist das nicht furchtbar traurig? Ach! und die arme Nellie ist noch so jung und immer so fröhlich, ich kann mir gar nicht denken, daß sie eine Gouvernante wird! Es ist doch schrecklich, wenn man kein liebes Vaterhaus hat! – Nun wollt’ ich Euch recht von Herzen bitten, Ihr möchtet die Geschenke, die Ihr mir zugedacht habt, zwischen mir und meiner Nellie teilen und zwei Kisten daraus machen. Bitte, bitte! Ihr schenkt mir stets so viel, daß ich doch immer noch genug habe, wenn es auch nur die Hälfte ist. Ich würde gewiß keine rechte Freude am heiligen Abend haben, wenn Nellie gar nichts auszupacken hätte.

Ihr hattet mir Erlaubnis gegeben, an den Tanzstunden nach Weihnachten teilnehmen zu dürfen, und du, liebe Mama, versprachst mir ein neues Kleid dazu, kaufe mir keins, mein blaues ist noch sehr gut und ich komme damit aus. Schenkt Nellie dafür etwas – bitte, bitte!

Mit diesem heißen Wunsche umarmt Euch

Eure
dankbare Ilse.

N. S. Das Geld schicke nur recht bald, einziges Papachen, ich habe es furchtbar nötig.«

Umgehend erhielt denn auch Ilse das Gewünschte. Der zärtliche Papa hatte in seiner Freude über die Herzensgüte seines Kindes eine große Summe schicken wollen, Frau Anne hielt ihn davon zurück. Sie stellte ihm vor, daß es für Ilse weit besser sei, wenn sie mit geringen Mitteln sich einrichten lerne und stets genügsam bleibe.

Ihr Wunsch, Weihnachten nicht in die Heimat zu kommen, wurde gern erfüllt, der Papa schrieb sogar, er lobe ihren verständigen Entschluß. Die weite Reise war im Winter nicht ratsam. Freilich werde er seinen Wildfang schmerzlich vermissen und es werde der Mama und ihm recht einsam sein, aber er wolle sich mit dem Gedanken trösten, daß das nächste Christfest desto schöner ausfallen werde. –

Beinah kränkte sie diese bereitwillige Zustimmung, indes sie kam zu keinem Nachdenken darüber, der Briefträger kam und brachte ihr dreißig Mark.

»Dreißig Mark!« jubelte Ilse. »Nellie, nun sind wir reich! – Komm, laß uns gleich gehen und unsre Einkäufe machen, ich kann die Zeit nicht erwarten.«

»O nein, Kind,« entgegnete Nellie bedächtig, »erst müssen wir ein langer Zettel aufschreiben mit alle Sachen, die wir kaufen werden. Wir müssen doch rechnen, was sie kosten.«

Daran hatte die lebhafte Ilse gar nicht gedacht. Ohne zu überlegen, würde sie blind drauf los gekauft und am Ende wieder nicht gereicht haben.

Die beiden Mädchen machten sich nun daran, eine Liste aufzusetzen. Die nötigen Geschenke wurden aufgeschrieben und von der praktischen Nellie der ungefähre Preis dahinter gesetzt. Als Ilse für die Kinder des Kutscher Johann ebenfalls Sachen zu kaufen aufschrieb, rief Nellie:

»Halt! Du kannst von deine alte Sachen die Kutschermädchen schenken, dann sparen wir Geld.«

»Ich habe nichts,« meinte Ilse, »kaufen geht schneller.«

Nellie hatte sich bereits daran gemacht, in Ilses Kommode und auch im Schranke nachzusehen, um sich zu überzeugen, ob sie nichts fände.

»Man muß sparen und nicht seine Geld aus die Fenster schmeißen.«

Und siehe da, es fand sich allerhand unter Ilses alten Sachen. Schürzen, die sie nicht mehr trug, ein Kleid, das ihr zu eng und zu kurz geworden war, und zuletzt noch das vorjährige Pelzzeug, welches die gütigen Eltern durch neues, weit kostbareres ersetzt hatten.

»Siehst du, Verschwender!« triumphierte Nellie. »Du weißt nicht deine große Schatze. Nun kaufen wir für dein’ Kutscher ein Paar warme Handschuh und fertig ist die ganze Kutschergesellschaft.«

Die wenigen Wochen bis zum heiligen Abend vergingen in rasender Schnelle. Nellie und Ilse hatten neben so mancherlei andern Arbeiten auch noch die neue Puppe anzukleiden. Das war für Ilse eine schwere Aufgabe, und ohne ihre geschickte Freundin wäre sie niemals damit zu stande gekommen.

»Wie geschickt du bist, Nellie,« sagte Ilse, als diese der Puppe das schottische Kleid anprobierte, »das hast du doch geradezu klassisch gemacht. Ich hätte es wirklich nicht fertig gebracht.«

»Aber hast du niemals ein Kleid für dein’ Puppen genäht – oder eine Hut – oder ein Mantel?«

»Nein,« antwortete Ilse aufrichtig, »niemals! Ich habe an den toten Dingern mein Lebtag keine Freude gehabt. Viel lieber habe ich mit den Hunden gespielt.«

»Da ist kein Wunder, wenn du ein klein’, dumm’ Ding geblieben bist! Deine Hunde brauchen kein Kleid,« lachte Nellie. »Nun mußt du auf dein’ alt’ Tage nähen lernen, siehst du.«

Ilse lachte fröhlich mit und bemühte sich, das weiße Batistschürzchen für die Puppe, an welchem sie rings herum Spitzen setzte, recht sauber und nett fertig zu bringen. – Einen Tag vor der Bescherung erhielten die erwachsenen Mädchen, denen es Vergnügen machte, die Erlaubnis, die schöne, große Tanne auszuputzen. Das war ein Fest und für Ilse ganz und gar neu. Niemals hatte sie sich bis dahin selbst damit befaßt, und sie kannte es nicht anders, als daß am Weihnachtsabend ein mit vielem kostbaren Zuckerwerk behangener Baum ihr hell entgegengestrahlt hatte, – hier lernte sie kennen, daß auch ohne Zuckerwerk derselbe herrlich zu schmücken war.

Nach dem Abendbrot, als die jüngeren Mädchen und auch die Engländerinnen, die kein Verständnis für das harmlose Vergnügen hatten, zu Bett gegangen waren, begann das Werk.

Orla brachte einen großen Korb mit Tannenzapfen, selbst gesucht auf den Spaziergängen im Walde, und setzte denselben auf die Tafel. Annemie stellte zwei Schälchen mit Gummiarabikum daneben, in das eine schüttete sie Silber-, in das andre Goldpuder und rührte es mit einem Stäbchen um.

»Wer will mir helfen,« rief Orla.

»Ich! ich!« antwortete es von allen Seiten; nur Ilse schwieg, sie hatte keine Ahnung, was eigentlich mit den vielen großen und kleinen Tannenzäpfchen geschehen solle. – Daheim verkamen dieselben unbeachtet im Walde. – Es sollte ihr bald kein Geheimnis mehr sein.

Melanie und Rosi hatten die Pinsel ergriffen und fingen an, den unansehnlichen braunen Dingern ein goldenes oder silbernes Gewand zu geben. Und wie schnell das ging. Kaum hatten sie ein paarmal darüber gepinselt, so waren sie fertig.

»Sieh nur, Rosi,« rief Melanie aus und hielt einen vergoldeten Zapfen unter die Gaslampe, »ist der nicht furchtbar reizend? Wundervoll, nicht? Gleichmäßig, wirklich künstlerisch ist er vergoldet, kein dunkles Pünktchen ist an ihm zu sehen!« Und sie betrachtete das Prachtexemplar höchst wohlgefällig nach allen Seiten.

Orla und Rosi hatten fleißig weitergepinselt und stillschweigend einen Tannenzapfen nach dem andern beiseite gelegt.

»Du bist im höchsten Grade langweilig mit deinem ewigen Selbstlobe,« tadelte Orla, »ich habe noch nie jemand kennen gelernt, der sich so vergöttert wie du. Pinsle lieber weiter und halte dich nicht bei unnützen Lobhudeleien auf.«

Melanie fühlte sich sehr getroffen und errötete. »Wie grob du bist, Orla!« sagte sie gereizt, »du hast freilich keinen Sinn für harmlose Vergnügen.«

»Kinder!« unterbrach Fräulein Güssow, die am andern Ende der Tafel saß und Aepfel und Nüsse vergoldete, »keinen Streit! Melanie, komm zu mir, du kannst mir helfen, und du Ilse, versuche einmal, ob du Melanies Stelle ersetzen kannst.«

Ilse ließ sich das nicht zweimal sagen. Eilig griff sie zum Pinsel und flink und gesandt that sie ihre Arbeit. Orla war sehr zufrieden damit.

»Nur nicht ganz so dick aufstreichen,« mahnte sie, »sonst reichen wir nicht mit unsrem Gold- und Silbervorrat.«

Flora und Annemie fertigten Netze aus Goldpapier an. »Eine geisttötende Arbeit,« flüsterte Flora Annemie zu, »und außerdem ohne jede Poesie. Warum die Tanne mit allerhand Tand aufputzen? Ist sie nicht am herrlichsten in ihrem duftigen, grünen Waldkleide? – Lichter vom gelben Wachsstocke in ihr dunkles Nadelhaar gesteckt, – ein goldener Stern hoch oben auf ihrer schlanken Spitze, – schwebend – strahlend! – das nenn’ ich Poesie!« –

Hier hielt sich Annemie nicht mehr, sie bekam einen solchen Lachreiz, daß sie aufsprang und hinauslief, um sich draußen erst auszulachen.

Dicht unter dem Baume standen Grete und Nellie. Letztere hoch auf einer Trittleiter, eine große Düte Salz in der Hand haltend. Die andre mit einem Leimtiegel in der Hand war ihr Handlanger. Das heißt, sie reichte Nellie den Pinsel zu, damit diese die Zweige mit dem Leim bestrich, bevor sie Salz darauf warf.

»Jetzt bin ich eine große Sturmwind und mache der Baum voller Schnee,« scherzte Nellie.

»Wirklich! – die Zweige werden weiß!« rief Ilse und verließ einen Augenblick ihre Arbeit, um sich das Schneetreiben genau anzusehen. »Das ist aber klassisch! Das gefällt mir! Nein, das sieht zu reizend aus!«

Freilich fiel ein großer Teil Salz unter den Baum, indes Nellie ließ sich die Mühe nicht verdrießen, immer wieder kehrte sie dasselbe zusammen und strich es mit der Hand dick auf den Leim.

»Du alt’ Baum wirfst sonst alles Schnee auf die Erde,« meinte sie. »Aber das ist schlechte Arbeit, alle meiner Finger kleben.«

Rosi trat jetzt auch an den Baum heran, um ihn mit den glänzenden Tannenzapfen zu schmücken. Sie sah heute ganz anders aus als sonst. Ihre sonst so gleichmäßigen Züge trugen den Ausdruck froher Erwartung, ihre milden Augen strahlten und rosig waren ihre Wangen angehaucht.

»O du selige, o du fröhliche Weihnachtszeit,« summte sie mit ihrer frischen Stimme leise vor sich hin, und Fräulein Güssow rief ihr zu:

»Singe nur laut heraus, Rosi, das bringt uns bei unsrer Arbeit so recht in die echte Weihnachtsstimmung.«

»Wir wollen alle singen!« riefen Grete und Annemie, »bitte, Fräulein Güssow!«

»Meinetwegen, aber hübsch gedämpft, Kinder, damit die Kleinen nicht davon erwachen.«

Und nun erklang aus den jugendlichen Kehlen das schöne Lied vierstimmig. – – Die junge Lehrerin senkte den Kopf herab, – der Gesang stimmte sie traurig. Ihre Kindheit – ihre erste Jugendzeit stand mit einemmal lebendig vor ihrer Seele. – – Was hatte sie gehofft – – und wie hatten sich ihre Träume erfüllt! – – Durch ihre eigne Schuld! –

Mitten im Gesange wurde plötzlich die Thür geöffnet und Fräulein Raimar, begleitet von Herrn Doktor Althoff, trat herein. Sie hatten soeben eine notwendige Besprechung in der Vorsteherin Zimmer beendet.

Das war eine Ueberraschung, die niemand vermutet hatte. Der Gesang verstummte und die Mädchen wurden mehr oder weniger verlegen, als der Gegenstand ihrer stillen Verehrung so unerwartet vor ihnen stand. Flora errötete bis an die Haarwurzeln.

»Nun, warum singt ihr nicht weiter, Kinder?« fragte die Vorsteherin. »Laßt euch nicht stören durch unsre Gegenwart.«

Aber es wollte nicht wieder so recht in Zug kommen. Orla setzte zwar ein, aber falsch, sie war sehr wenig musikalisch. – Annemie mußte über den Mißton lachen, und da Lachen ansteckt, – stimmten die übrigen ein.

»Was machen Sie denn, Miß Nellie?« fragte Doktor Althoff und trat auf sie zu. »Warum verstecken Sie Ihre Hände so ängstlich?«

Er lächelte sie an. Flora warf einen verstohlenen Blick auf ihn, und bevor sie sich zur Ruhe legte, schrieb sie in ihr Tagebuch:

»Er hat sie angelächelt! Beneidenswerte Nellie! – Bezaubernd – hinreißend – sah er in diesem Augenblicke aus! Die geistvollen, dunklen Augen sprühten Feuer – um die schmalen Lippen zuckte es sarkastisch – wunderbare Perlenzähne schimmerten durch den dunkelblonden Bart. – Aber Nellie ist kokett! Leider! – Dieser Augenaufschlag!« –

»O,« entgegnete Nellie höchst verlegen, »ich habe die Finger verklebt mit der häßliche Leim!« und schnell lief sie hinaus, um sich gründlich zu reinigen. Doktor Althoff sah ihr wohlgefällig nach.

»Nellie spricht doch sehr schlecht deutsch,« bemerkte Flora etwas spöttisch, »ich begreife das eigentlich nicht. Ein Jahr ist sie bereits in der Pension und wie falsch drückt sie sich noch immer aus.«

Sie hatte ihre Bemerkung so laut gemacht, daß der junge Lehrer sie hören mußte.

»Die deutsche Sprache ist schwer zu erlernen, Flora,« entgegnete er, »und ich muß gestehen, Nellie hat in dem einen Jahre schon sehr gute Fortschritte gemacht. Uebrigens klingen die kleinen Schnitzer, die sie zuweilen macht, ganz allerliebst und naiv, – wir wollen sie nicht deshalb verdammen.«

Fräulein Raimar blickte etwas erstaunt auf den Sprechenden, der sich so warm Nellies annahm. Vielleicht fand sie seine Entschuldigung in Gegenwart der übrigen Mädchen nicht ganz passend.

»Es ist sehr spät, Kinder,« unterbrach sie das Thema, »wollt ihr nicht für heute aufhören und morgen in eurer Arbeit fortfahren?«

Aber die Mädchen baten so sehr, heute schon ihr Werk vollenden zu dürfen, daß sie die Erlaubnis erhielten. Zu Floras Aerger, welche die Zeit nicht abwarten konnte, bis sie die vielen großartigen Gedanken, die in ihrem Kopfe spukten, erst schwarz auf weiß vor sich hatte.

Fräulein Raimar und Doktor Althoff entfernten sich und Nellie trat gleich darauf wieder in das Zimmer. Flora konnte nicht umhin, ihr einen kleinen Seitenhieb zu versetzen.

»Warum verstecktest du deine Hände auf dem Rücken?« fragte sie. »Ich fand das furchtbar komisch von dir. Du dachtest wohl, Doktor Althoff wolle dir die Hand geben?«

Die arme Nellie war über diesen Angriff so erschrocken, daß sie nicht darauf antworten konnte. Aber Ilse half ihrer Freundin aus der Verlegenheit.

»Ich finde nichts Komisches darin, Flora,« sagte sie lustig, »wenn Nellie nicht gern beschmutzte Finger sehen lassen will; aber daß du ihr deine eignen Gedanken zutraust, das finde ich komisch! – Ja, ja, Florchen, du bist erkannt!«

Flora errötete, aber sie war klug und antwortete nur mit einem wegwerfenden Achselzucken. –

Alle Vorbereitungen waren zu Ende. Die Mädchen trugen Ketten, Netze, kurz allen Schmuck herbei, um den Baum zu behängen.

Wie er sich füllte! Wie festlich geschmückt er bald dastand! Ilse bewunderte hauptsächlich die glänzenden Tannenzapfen, die sich zwischen den dunklen Nadeln ganz herrlich ausnahmen.

»Wie ein Märchenbaum!« rief sie fröhlich, und »Bäumchen rüttle dich und schüttle dich!« setzte sie übermütig hinzu.

»O, nein!« rief Nellie in komischem Ernste, »nicht schüttle und rüttle dir, Baumchen, es fallt sonst all der Salz von deiner Nadel und ich muß mir noch einmal die Finger zerkleben.«

»Nie in meinem Leben sah ich einen so schönen Christbaum!« erklärte Ilse.

»Wir sind noch nicht fertig, Ilse,« entgegnete Fräulein Güssow, »bald hätte ich das Gold- und Silberhaar vergessen.« – Und nun begann sie feine Fäden rings um den Baum zu spinnen.

»Wie schön! wie schön!« jubelte Ilse und schlug wie ein Kind vor Freude in die Hände. Dann nahm sie Nellie in den Arm und tanzte mit ihr um den Baum.

»Du wirst mit deiner lauten Freude die Schlafenden aufwecken,« ermahnte Fräulein Güssow; aber sie sah Ilse mit inniger Teilnahme an. – Es gab eine Zeit, wo auch sie so fröhlich hinausgejubelt hatte in die Welt, – bis der Sturm kam und ihr die Blüte des Frohsinns abstreifte und verwehte. –

»Geht nun zu Bett, Kinder,« bat sie, »aber leise, hört ihr? Gute Nacht!«

»Gute Nacht, gute Nacht!« rief es zurück und Ilse setzte hinzu: »Ach, Fräulein! Wenn es doch erst morgen wäre!« –

Das war ein Leben am andern Tage! Die Mädchen waren ganz außer Rand und Band. Ilse war ausgelassen fröhlich und Nellie stand ihr darin bei. Annemie lachte über jede Kleinigkeit, ja selbst Rosi, die stets Vernünftige, machte heute eine Ausnahme und schloß sich der allgemeinen Stimmung an. Als Flora ein selbstgedichtetes Weihnachtslied zum besten gab, und die ganze übermütige Schar sie dabei auslachte, lachte Rosi mit, – nur als Nellie an zu necken fing, bat sie sanft:

»Bitte, Nellie, nicht spotten! Wir haben die arme Flora schon genug gekränkt, als wir sie auslachten.«

Melanie und Grete waren die einzigen, die eine leise Verstimmung nicht unterdrücken konnten. Sie hatten gehofft, Weihnachten zu Hause verleben zu können, und waren enttäuscht, als die Eltern ihnen nicht die Erlaubnis gaben, weil sie es nicht passend fanden, daß junge Mädchen allein eine so weite Reise machten.

Melanie fand diesen Grund geradezu furchtbar kränkend. »Als ob ich noch ein Kind wäre!« sprach sie ärgerlich zu Orla. »Ich bin siebzehn Jahre alt! Und doch wahrhaftig alt und verständig genug, uns beide zu schützen!«

»Aber du bist hübsch,« entgegnete die Angeredete mit leichter Ironie, »und das ist gefährlich. Denk’ einmal, wenn dir unterwegs ein Abenteuer begegnete! Das wäre doch furchtbar schrecklich!«

»Ich bitte dich, Orla, verschone mich mit deinen albernen Spöttereien!« wehrte Melanie entrüstet ab. Aber sie fühlte sich doch in ihrem Inneren geschmeichelt, die kleine Eitelkeit.

»Du hörst es ja doch gern, Herzchen,« lachte Orla. »Warum auch nicht? Hübsch zu sein ist ja keine Schande, – besonders wenn man so wenig eitel ist wie du! Uebrigens tröste dich mit uns, wir sind ja fast alle zurückgeblieben, bis auf die wenigen Pensionärinnen, die in der Nachbarschaft wohnen, und die vier Engländerinnen, die Miß Lead wieder zurück in ihre Heimat bringt. – Störe nicht unsre fröhliche Laune durch ein verstimmtes Gesicht. Sieh doch nur Lilli an, – kannst du bei dem Anblicke so seliger Freude noch mißmutig sein?«

Das Kind lief nämlich von einer zur andern, treppauf, treppab und fragte jede Viertelstunde, ob es noch nicht dunkel würde, und ob das liebe Christkindl noch nit bald käm. –

Endlich, endlich brach der Abend herein. Die Vorsteherin und Fräulein Güssow verweilten schon seit zwei Uhr in dem großen Saale, und in einer Klasse, die dicht daneben lag, saßen erwartungsvoll die Pensionärinnen. Natürlich im Dunkeln, denn Licht durfte vor der Bescherung nicht angesteckt werden.

Lilli fühlte sich etwas unheimlich in der Finsternis. Sie kletterte auf Ilses Schoß und schlang den Arm um ihren Hals.

»Kommt denn das Christkindl noch nit bald?« fragte sie wieder. »Schau, es ist halt schon stockfinster.«

»Nun bald,« tröstete Ilse und drückte Lilli zärtlich an sich. Das Anschmiegen des Kindes that ihr so wohl und seine Liebe machte sie so glücklich. »Bald kommt das Christkind, ach, und wie schön wird das sein! – Soll ich dir ein Märchen erzählen, damit dir die Zeit schneller vergeht?«

»Bitt schön! Vom Hansel und Gretel!«

Ilse hatte indes kaum begonnen »es war einmal«, als Lilli ihr den Mund zuhielt.

»Nit weiter!« unterbrach sie, »ich mag das heut nit hören! Ich muß immer an das Christkindl denken. Kennst du das liebe Christkindl, Ilse? Hast du’s schon g’schaut?«

»Nein,« sagte Ilse, »gesehen habe ich es noch niemals. Niemand kann es sehen, es wohnt nicht auf der Erde.«

»Wohnt es im Himmel?« fragte Lilli. »Schau, da möcht’ ich halt auch wohnen, da ist’s schön, nit? Da singen die lieben Englein, und die lieben Englein, die wohnten früher auf der Erde, das waren die artigen Kinder, nit? – Der liebe Gott hat sie in sein Himmelreich geholt, nit wahr, Ilse?«

Die Worte des Kindes riefen sentimentale Ahnungen in Flora hervor, sie war auch im Begriff, dieselben auszusprechen, als Nellie ihr das Wort abschnitt.

»Was schwatzt der kleine Kind für Zeug?« sagte sie und streichelte liebkosend Lillis Hand. »Wo hast du dies gehört? Keiner Mensch hat noch in der Himmel geschaut.«

»Aber die Mama hat’s gesagt, – sie weiß es, nit wahr, Ilse?« rief Lilli heftig.

Die gab ihr keine Antwort darauf, sie versuchte, das Kind auf andre Gedanken zu bringen.

»Möchtest du wieder zu deiner Mama?« fragte sie.

»Nein,« entgegnete Lilli, »ich bleib’ lieber bei euch. Die Mama kümmert sich halt so wenig um mich, sie hat kein’ Zeit. Sie muß immer studieren,« setzte sie altklug hinzu. »Alle Abend geht sie ins Theater.«

»Denn es kümmert sich ka Katzerl – ka Hunderl um mi!« recitierte Flora schwärmerisch.

»Komm zu mir, Lilli,« bat Melanie, »ich will dir eine herrliche Weihnachtsgeschichte erzählen.«

»Bitt’, bitt’, laß mich bei Ilse bleiben, Melanie, ich will ganz gewiß recht genau zuhören auf dein G’schicht.«

Und während Melanie ihre Erzählung zum besten giebt, wollen wir einen Blick in den Weihnachtssaal werfen.

Die beiden Damen waren so ziemlich fertig mit ihrer großen Arbeit. Fräulein Güssow war dabei, noch einige versiegelte Pakete auf verschiedene Plätze zu verteilen. Es waren in denselben die Geschenke enthalten, welche die junge Welt sich untereinander bescherte. Der Name der Empfängerin war darauf geschrieben, die Geberin mußte erraten werden.

Fräulein Raimar stand neben dem Gärtner, der eifrig beschäftigt war, die angekommenen Kisten zu öffnen, die Deckel wurden lose wieder darauf gelegt, denn das Auspacken besorgten die Empfängerinnen selbst.

Nur mit Lilli wurde eine Ausnahme gemacht, Fräulein Raimar packte deren Kiste aus und schüttelte den Kopf, als sie damit beschäftigt war.

»Sehen Sie nur den Tand, liebe Freundin,« sagte sie. »Nicht ein vernünftiges Stück finde ich dabei. Zwei weiße Kleider, so kurz, daß sie dem Kinde kaum bis an die Knie reichen, aber schön gestickt, hier eine breite rosa Atlasschärpe, ein kleiner Hermelinmuff, ein Paar feine Saffianstiefel und eine Puppe im Ballstaat. Und vieles Zuckerwerk – das ist alles! Warme Strümpfe und eine warme Decke, um die ich so sehr gebeten, und die dem Kinde so nötig sind, – sie fehlen ganz.«

»Hier scheint ein Brief für Sie zu sein,« sagte Fräulein Güssow und nahm ein duftiges rosa Billet von der Erde auf. Wahrscheinlich war dasselbe aus dem Muff gefallen, den die Vorsteherin noch in der Hand hielt. Sie erbrach das an sie gerichtete Schreiben und las wie folgt:

 

»Ich ersuche Sie freundlich, meiner Lilli die Kleinigkeiten unter den Baum zu legen. Hoffentlich ist das liebe Herzl recht gesund. Nun ich hab halt nit nötig, mich zu sorgen, weiß ich doch das goldene Fischel in so gute Händ! – Wollne Strümpf und a Jackerl hab i halt nit mitgeschickt, i wünsch das Kind nit zu verwöhnen. Es soll immer a weiß Kleiderl anziehn, – Hals frei und Arme frei, – so ist sie’s gewohnt, und dabei möcht ich’s halt lassen.

Geben Sie mein Herzblatterl tausend Schmazerl, und daß es die Mama nit vergißt!

Mit dankbaren Grüßen verbleib ich

Ihre
ergebene Toni Lubauer.«

 

»Weiße Kleider und dünne Strümpfe!« wiederholte Fräulein Raimar kopfschüttelnd. »Es ist gut, daß wir für einiges gesorgt haben, ich könnte es nicht vor mir selbst verantworten, das kleine Ding so durchsichtig und wenig bekleidet zu sehen.«

Die junge Lehrerin stimmte bei und warf einen recht befriedigten Blick auf all die schönen und nützlichen Sachen, die auf Lillis Tischchen aufgebaut lagen.

Der Gärtner war mit seiner Arbeit fertig und hatte das Zimmer verlassen – die Damen zündeten die Lichter des Baumes an, und als auch das geschehen war, ergriff die Vorsteherin eine silberne Klingel und läutete.

Wie mit einem Zauberschlage flogen die Flügelthüren auf und die junge Schar stürmte herein.

Einen Augenblick standen sie wie geblendet da. So plötzlich aus der Dunkelheit in das helle Licht, – der Kontrast war fast zu grell.

Lilli besonders stand wie gebannt da und hielt Ilses Hand krampfhaft fest.

»Komm,« redete Fräulein Raimar sie an, »ich will dich an deinen Tisch führen, du bist ja ganz stumm geworden.«

Als das Kind vor seiner Bescherung stand, kehrte seine Lebhaftigkeit zurück.

»Die schöne Puppe!« rief es entzückt und schlug die Händchen zusammen.

»Die ist aber halt zu schön! Meine alte Lori ist lang nit so süß! – Und ein Strohhüterl hat sie auf – ach Gotterl! und die langen Zopferl! Und ein Schultascherl tragt sie am Arm! Bitt schön, Fräulein, darf ich sie in die Hand nehmen? Ich möcht sie ganz nah anschaun! Bitt schön, erlaube mir’s!«

Fräulein Raimar erfüllte gern die Bitte des Kindes, das behutsam sein Püppchen in den Arm nahm.

»Sie kann die Augerl schließen!« fuhr dasselbe fort. »Schau, Fräulein, sie will schlafen!« Das Kind war ganz außer sich vor Entzücken bei dieser Entdeckung und hielt sein Plappermäulchen nicht einen Augenblick still. »Meine Lori hat die Aeugerl immer auf, sie kann nit schlafen, nit wahr, Fräulein? Die ist dumm, lang nit so gescheit wie diese. – Hast du mir die Puppe geschenkt, Fräulein?«

»Nein,« entgegnete diese, die sich an Lillis jubelnder Freude erquickte. »Ilse und Nellie haben sie dir angezogen. Aber sieh einmal, hier hast du noch eine Puppe, die hat dir deine Mama geschenkt.«

Kaum einen Blick hatte sie für die kostbare Balldame. »Die ist mir zu geputzt,« sagte sie, »die kann ich doch nit in das Bett legen! Die kann mein Kind nit sein!« – Und mit der Puppe im Arme lief sie zu Ilse, um sich zu bedanken.

Diese aber war sehr beschäftigt. Sie packte ihre Kiste aus und hatte nicht Zeit, an etwas anderes zu denken. »Später, Liebling,« sagte sie, und fertigte die Kleine mit einem flüchtigen Kuß ab. – Soeben hielt sie einen prächtigen rosa Wollstoff in der Hand und Nellie stand neben ihr und bewunderte denselben lebhaft.

»O wie süß!« rief sie. »Wie von Spinnweb so fein! Und wie er dir kleidet,« fuhr sie fort und hielt den Stoff der Freundin an, »das wird ein schön’ Tanzstundenkleid! Du wirst dir wie eine Fee darin machen!«

Ilse aber war gar nicht recht vergnügt über das kostbare Geschenk, es malte sich sogar etwas wie Enttäuschung in ihren Zügen. Warum mochten die Eltern ihre Bitte nicht berücksichtigt, ja nicht einmal eine Antwort darauf gegeben haben?

Und Nellie war so gut – so neidlos teilte sie ihre Freude.

So mochte auch Fräulein Güssow denken, die näher getreten war. Sie legte den Arm um Nellies Schulter und fragte: »Warum packst du nicht deine eigene Kiste aus?«

»Meine Kiste?« wiederholte Nellie. »O Fräulein, Sie spaßen! Für mir giebt es das nicht!«

Ilse horchte auf. Einen schnellen, fragenden Blick warf sie der jungen Lehrerin zu und diese antwortete mit einem geheimnisvollen Lächeln.

»Wer weiß!« fuhr sie fort, »sieh einmal nach, vielleicht hat eine gütige Fee dir etwas beschert.«

Ilse erhob sich schnell aus ihrer knieenden Stellung und nahm die Freundin unter den Arm. »Komm,« sagte sie, »wir wollen suchen.«

Kiste an Kiste stand da in der Reihe, jede indes war bereits in Besitz genommen, Ilses Auge aber flog voraus. Sie hatte am Ende des Saales eine herrenlose Kiste entdeckt, dorthin zog sie Nellie.

Und richtig, da stand mit großen Buchstaben auf dem Deckel: »An Miß Nellie Grey.« – Es war kein Zweifel, die Adresse lautete an sie.

»O, was ist dies!« rief Nellie überrascht und ihre Wangen röteten sich, »wer hat an mir gedacht? Ist es gewiß für mir?«

»Ja, sie ist wirklich für dich,« versicherte Ilse strahlend, denn nun hatte sie erst die echte Weihnachtsfreude, »nimm nur den Deckel hoch.«

Immer noch etwas zögernd folgte Nellie dieser Aufforderung. Welche Ueberraschung! Da lag obenauf ein gleicher Stoff in blaßblau, wie sie soeben denselben in rosa bei Ilse bewundert.

Und wie sie nun weiter auspackten, jetzt eine jede ihre eigene Kiste, da hielten sie sich jubelnd stets die gleichen Herrlichkeiten entgegen. Bald war es eine gestickte Schürze, dann kamen farbige Strümpfe an die Reihe, Handschuhe, sogar die Korallenkette, die schon lange ein sehnlicher Wunsch Ilses war, fehlte bei Nellies Bescherung nicht. Auch die vielen Leckereien waren gleichmäßig verteilt.

Ilse hatte in einem Karton mit Briefpapier einen langen zärtlichen Brief der Eltern gefunden und als Nellie den ihrigen öffnete, lag auch für sie ein kleines Briefchen darin.

 

 

»Meine liebe Nellie,« schrieb Ilses Mama, »ich darf Sie doch so nennen als meiner Ilse liebste Freundin? Mein Mann und ich möchten Ihnen so gern einen kleinen Beweis geben, wie dankbar wir Ihnen sind für die Liebe und Freundschaft, die Sie stets unsrem Kinde zu teil werden ließen. Zwei Freundinnen aber müssen auch gleiche Freuden haben – und mit diesem Gedanken bitten wir Sie herzlich, den Inhalt der Kiste freundlich anzunehmen.

Mit dem aufrichtigen Wunsche, daß Sie auch fernerhin unsrer Ilse eine treue Freundin bleiben mögen, grüßt Sie herzlich

Anne Macket.«

 

Nellie fiel Ilse um den Hals und vermochte kein Wort hervorzubringen. Die Rührung schnürte ihr die Kehle zu – Thränen waren seltene Gäste bei unsrer Nellie. Das frühverwaiste Mädchen, das sich von klein auf stets bei Verwandten herumdrücken mußte, dem das Sonnenlicht der elterlichen Liebe fehlte, hatte das Weinen beinah verlernt. Wer hätte auch auf seine Thränen achten sollen?

»Dein Mutter ist ein Engel!« brachte sie endlich, so halb unterdrückt, heraus. »Wie soll ich sie für alles danken?«

»Ja, meine Mama ist sehr gut!« bestätigte Ilse, und zum erstenmal stieg ein warmes, zärtliches Gefühl für dieselbe in ihrem Herzen auf.

Für sentimentale Stimmungen waren Ilse und Nellie indes nicht angethan, und als erstere ein Stück Marzipan der Freundin in den Mund steckte, war die Rührung zu Ende. Thränenden Auges verzehrte es Nellie, und dieser Anblick kam Ilse so possierlich vor, daß sie lachen mußte, – natürlich stimmte Nellie ein.

»Seid ihr fertig, Kinder? Habt ihr alle eure Kisten ausgepackt!« rief Fräulein Raimar und unterbrach das Gewirr von Stimmen, das laut und lebhaft durcheinander klang.

»Ja, ja!« rief es zurück und nun beeiferte sich eine jede, die heimatliche Bescherung vorzuzeigen, und die Vorsteherin blickte in lauter freudig erregte und zufriedene Gesichter. Nur Flora sah etwas enttäuscht aus. Sie hatte anstatt »Jean Pauls Werke«, die sie sich so glühend gewünscht, »Schlossers Weltgeschichte« erhalten mit dem Versprechen vom Papa, daß, wenn sie erst reifer für solche Lektüre sei, sie dieses Werk erhalten werde.

Reifer! Es klang ihr wie bittrer Hohn. Sie fühlte sich mit ihren sechzehn Jahren schon so überreif, daß sie selbst poetische Werke in das Leben rief – und sie – sie sollte nicht »Jean Paul« lesen!

Nachdem die Geschenke der Eltern auf eine leer gelassene Tafel aufgebaut waren, und nachdem die Mädchen auch diejenigen der Lehrerinnen in Empfang genommen hatten, kamen endlich die versiegelten und verpackten Ueberraschungen an die Reihe.

Da kamen denn allerhand drollige Dinge zum Vorschein und der Jubel und das Lachen wollten kein Ende nehmen.

Flora hatte soeben einen langen, blauen Strumpf aus zahllosen Papieren herausgewickelt und hielt ihn hoch in der Hand. Etwas verwundert drehte sie diese wunderbare Gabe nach allen Seiten, die ironische Anspielung fiel ihr nicht sogleich ein.

»Ein Strumpf?« fragte sie, »was soll ich damit?«

»Er ist dein Wappen, lieber Blaustrumpf,« belehrte sie Orla. »Die Idee ist wirklich famos!«

»Er ist von dir!« beschuldigte sie Flora.

»Leider nein,« entgegnete Orla.

Annemie lachte so laut und herzhaft, daß sie sich als die Geberin verriet.

»Bist du mir böse, Flora?« fragte sie gutmütig.

Sonderbare Frage! Ganz im Gegenteil, Flora fühlte sich höchst geschmeichelt, daß man sie zu den Blaustrümpfen zählte. Der gestickte Schlips, den Annemie in den Strumpf versteckt hatte, erfreute sie nicht halb so wie die dichterische Anerkennung. – In bester Stimmung löste sie jetzt den Bindfaden von einem Pappkasten. Derselbe war eng damit umschnürt. Auf dem Deckel war ein Weinglas gemalt und mit großen Buchstaben stand »Vorsicht« daneben geschrieben.

Ganz behutsam nahm sie denn auch den Deckel ab, warf die Papierschnitzel heraus und fand in feines Seidenpapier eingeschlagen ein zerbrochenes Herz von Bisquit!

»Wie abscheulich von dir, Nellie!« rief sie gekränkt und wandte sich sofort an die richtige Adresse. Das Herz warf sie achtlos beiseite.

»Nicht so hitzig, Flora,« riet Grete, »sieh doch das zerbrochene Herz erst näher an.«

Zögernd entschloß sie sich dazu, und als sie ein reizendes, kleines Toilettekissen höchst künstlich verborgen entdeckte, söhnte sie sich einigermaßen mit der bösen Nellie aus.

Aber nicht Flora allein, auch all die übrigen mußten manche kleine Neckerei in den Kauf nehmen, so manche schwache Seite wurde an das Tageslicht gefördert und schonungslos gegeißelt. Die Vorsteherin wachte darüber, daß diese Reibereien stets in den Grenzen des Scherzes blieben; im allgemeinen hielt sie dieselben für ein gutes Mittel, sich gegenseitig auf die Fehler aufmerksam zu machen, es half oft mehr als alle ernsten Ermahnungen.

Nellie stand vor einem großen Berg Eßwaren, die sie aus ihren Paketen, in welchen sie außer einem kleinen Geschenke immer noch nebenbei allerhand Süßigkeiten fand, herausgewickelt hatte.

Schokolade, Marzipan, Apfelsinen, Rosinen und Mandeln, Lebkuchen, und in einem reizenden Kasten von Porzellan zwei saure Gurken. Diese waren eine besondere Lieblingsspeise von ihr.

Sie lachte und fragte, ob sie ein so hungrig Mädchen sei. »O, da ist ja noch ein Paket,« fuhr sie fort, »was für ein leckerer Bissen wird wohl darin sein?«

Aber sie irrte sich, diesmal kam ein Buch zum Vorschein und wie sie es aufschlug, las sie auf dem Titelblatte: »Deutsche Grammatik.« Ein Blatt Papier mit einem kleinen Gedichte lag dabei. Nellie las es vor.

»Lerne fleißig die deutsche Sprache –
Willst du begreifen holde Poesie.
Dies Buch ist einer Verkannten Rache,
Die du verstanden hast noch nie!«

»Flora!« rief Nellie. »Du hast mir mit deine edle Rache sehr beschämt! Ich werde lernen aus dieser Buch und dir verstehen! – Komm, gieb dein’ Hand, ich verspreche dich, daß ich nie wieder dein’ holde Poesie auslachen will, und wenn sie voll lauter zerbrochene Herzen ist.« –

Orla hatte unter anderm einen Klemmer erhalten und – o Schrecken! auch ein Etui mit Cigaretten. Fräulein Raimar stand neben ihr und sah das verräterische Ding.

»Was ist denn das?« fragte sie. »Ich will nicht hoffen, Orla, daß du wie eine Emanzipierte rauchst! Du würdest mich sehr erzürnen, wenn das der Fall wäre. Doch,« unterbrach sie sich, »wie komme ich dazu, einen Scherz für Ernst zu nehmen, am Weihnachtsabend sind dergleichen Witze erlaubt.« Leiser und nur für die Russin vernehmbar setzte sie hinzu: »Ich habe das feste Vertrauen zu dir, daß du niemals rauchen wirst!«

Die Angeredete schwieg und senkte die Augen. Der Tadel traf die Wahrheit, sie hatte wirklich manchmal im Verborgenen eine Cigarette geraucht. War es doch in ihrer Heimat nichts Auffallendes, wenn eine Dame sich ein kleines Rauchvergnügen machte.

Innerlich schalt sie die Pedanterie der Deutschen, der sie eine so harmlose Freude zum Opfer bringen mußte, denn niemals würde es ihre Wahrheitsliebe gestattet haben, gegen das Verbot der Vorsteherin zu sündigen, – mit einiger Ueberwindung reichte sie derselben die Cigaretten.

»Bitte, bewahren Sie mir dieselben,« bat sie und lächelnd fügte sie hinzu: »Damit ich nicht in Versuchung komme ...«

Melanie liebäugelte mit einem zierlichen Handspiegel. Sie freute sich sehr über denselben, noch mehr aber über ihr eignes Bild, das ihr entgegenlachte.

Grete blickte ihr über die Schulter. »Das ist eine Anspielung auf deine Eitelkeit, Melanie! Ich habe nichts bekommen, was mich ärgern oder wodurch ich mich getroffen fühlen könnte!«

»Nun glaubst du dich wohl fehlerfrei, liebe Grete!« spottete Melanie. »Bilde dir das ja nicht ein, liebes Kind, du bist noch längst kein vollkommnes Wesen. Es giebt sehr vieles an dir auszusetzen!«

Und als ob ihre Worte sofort in Erfüllung gehen sollten, rief Fräulein Güssow: »Grete, da steht noch eine vergessene Schachtel auf deinem Platze! Du hattest Papier darauf geworfen und wirst sie deshalb übersehen haben!«

Vergnügt und erwartungsvoll öffnete Gretchen die Schachtel. O weh! als sie den Deckel abhob, lachte ein glänzendes, zierlich gearbeitetes Vorlegeschloß sie boshaft an.

»Das ist eine Anspielung für dich, teures Plappermäulchen!« rief Melanie mit schwesterlicher Schadenfreude, und hielt das Schloß an Gretes Lippen.

»So, damit du in Zukunft hübsch schweigst und nicht so vorlaut bist.«

Unwillig wandte Grete sich ab, sie war gar wenig erbaut von der Ueberraschung. Sie warf das Schloß wieder in die Schachtel, schloß den Deckel und verriet durch ihre Empfindlichkeit, wie sehr sie sich getroffen fühlte ....

Ilse hatte aus einer mächtigen Kiste, die bis obenhin mit Heu gefüllt war, einen Hund herausgeholt. Keinen lebendigen, o nein! es war nur einer aus Pappe. Braun sah er aus und hatte weiße Pfötchen. Um den Hals trug er einen Zettel am roten Bande, auf welchem mit großen Buchstaben »Bob« geschrieben stand.

»Orla!« erriet Ilse sofort. Dieselbe hatte sie oft genug mit ihrem Hunde aufgezogen. Es kam ihr jetzt selbst recht lächerlich vor, wenn sie sich ihren Einzug in der Pension mit Bob auf dem Arme ausmalte. Wie einfältig war sie gewesen – wie unnütz hatte sie den armen Papa gequält! – Ilse hatte noch eine Ueberraschung, bei der sie fast erschrak. In einem reizenden Arbeitskorbe fand sie mehrere Aepfel von Marzipan.

Nellie stand neben Ilse und flüsterte ihr zu: »Diese sind Aepfel von der Baum – weißt du noch?«

Als die Angeredete ängstlich zur Seite blickte, fuhr sie beruhigend fort: »Du darfst nicht Angst haben, niemand hört uns.«

Sie hatte recht. Die Aufmerksamkeit aller war auf einen Vogelbauer gerichtet, in welchem eine lebendige Lachtaube saß. Annemie hielt denselben höchst angenehm überrascht in der Hand.

»Nun könnt ihr um die Wette lachen,« scherzte die Vorsteherin, »denn das Täubchen darfst du behalten und in deinem Zimmer aufhängen. Aber vergiß niemals, Annemie, daß du das Tierchen regelmäßig füttern mußt, hörst du?«

So erhielt eine jede ihre scherzhafte Rüge, nur Rosi nicht. Sie zerbrachen sich den Kopf, um einen Tadel an ihr zu entdecken, aber zu ihrem Bedauern fanden sie keinen. »Ganz ohne Scherz darf sie nicht sein,« erklärte Nellie, ging hin und kaufte ein Bilderbuch, auf dessen Titelblatt in goldenen Buchstaben drei Worte glänzten: ›Für artige Kinder‹. – »Dies paßt sehr für ihr,« sagte sie, und die übrigen Mädchen stimmten ein.

Rosi nahm das Buch, lächelte und legte es beiseite. Sie konnte nicht so recht begreifen, was es bedeuten sollte ....

Nachdem die Bescherung zu Ende und nachdem auch für die beiden Damen ein Tisch mit allerhand selbstgearbeiteten Sachen ausgebaut war, wurde der Thee eingenommen und kurze Zeit darauf zur Ruhe gegangen. Lilli wurde es schwer, sich von ihren schönen Sachen zu trennen, sie wollte nicht zu Bett gehen, aber der Sandmann kam und streute ihr den Schlaf in die Augen. Schlafend wurde sie entkleidet und in ihr Bett, das in Fräulein Güssows Zimmer stand, getragen.

Und nun wurde es still und dunkel im Hause. Der schöne Christabend war zu Ende mit seiner frohen Erwartung, seinem Lichterglanze ....

Ob wohl der Baum im nächsten Jahre für alle wieder angezündet wird, die heute unter ihm versammelt waren? –

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