Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.
Die Abenteuer Tom Sawyers
(Mark Twain, 1876, empfohlenes Alter: 12 - 13 Jahre)
10. Kapitel
<p>Die beiden Burschen liefen dem Dorfe zu, sprachlos vor Schreck. Von Zeit zu Zeit blickten sie ängstlich über die Schulter zurück, als fürchteten sie sich vor Verfolgern. Jeder Baumstumpf, der an ihrem Wege aus der Dunkelheit auftauchte, schien ihnen ein Mann und ein Feind, und ließ sie bis ins Mark erzittern. Und als sie bei einigen außerhalb des Dorfes gelegenen Niederlassungen vorbeikamen, schien ihnen das Bellen der erwachten Hunde Flügel zu verleihen.</p>
<p>„Wenn wir — nur bis zu der alten Gerberei — kommen — bevor wir — zusammenbrechen —“ stieß Tom abgerissen zwischen mühsamem Atemholen hervor.</p>
<p>„Ich — ich kann — nicht mehr — länger!“</p>
<p>Huckleberrys pochendes Herz war seine ganze Antwort; beide hefteten ihre Augen fest auf das Ziel ihrer Hoffnung und machten die äußersten Anstrengungen, es zu erreichen. Sie kamen ihm immer näher, und schließlich Brust an Brust, fielen sie förmlich durch die offene Tür — dankbar und atemlos, in den schützenden Schatten. Allmählich beruhigten sich ihre Pulse, und Tom flüsterte:</p>
<p>„Du, Huckleberry, was meinst du, wird von all dem kommen?“</p>
<p>„Na, ich denke, wenn Dr. Robinson stirbt, wird Gehenktwerden davon kommen.“</p>
<p>„Meinst du?“</p>
<p>„Nicht meine, ich <em>weiß</em>, Tom!“</p>
<p>Tom dachte ‘ne Weile nach, dann sagte er: „Wer wird‘s denn verraten? Wir?“</p>
<p>„Was fällt dir ein? Angenommen, ‘s käm‘ was dazwischen und Indianer-Joe müßt <em>nicht</em> hängen, wird er uns früher oder später so gewiß töten, daß wir grad so gut schon jetzt hier liegen könnten!“</p>
<p>„Huck, das hab‘ ich mir auch gedacht.“</p>
<p>„Wenn‘s jemand sagen soll, mag‘s doch Muff Potter tun, wenn er dumm genug ist. Der ist ohnehin immer betrunken genug!“</p>
<p>Tom sagte nichts — er brütete über etwas. Plötzlich wisperte er: „Huck, Muff Potter <em>weiß</em> es nicht. Wie kann er‘s <em>sagen</em>?“</p>
<p>„Warum sollt er‘s nicht wissen?“</p>
<p>„Weil er grad den ekligen Klaps bekommen hatte, als es Joe tat. Meinst du, da hätt‘ er‘s sehen können? Meinst du wirklich, er könnt‘s wissen?“</p>
<p>„Beim Henker, ‘s ist so, Tom!“</p>
<p>„Und dann — weißt du — sollt‘ ihm nicht der Hieb den Rest gegeben haben?“</p>
<p>„Kaum glaublich, Tom! Er hatte Schnaps in sich. Ich konnt‘s sehen; übrigens hat er das immer. Wenn mein Alter voll ist, kannst du ihn nehmen und ihn mit ‘nem Kirchturm überhauen — er spürt‘s nicht. Er sagt‘s auch selbst. Grad so ist‘s heut mit Muff Potter. Aber wenn einer klar im Kopf ist, schätz‘ ich, daß so ‘n Klaps genug für ihn sein möchte.“</p>
<p>Nach abermaligem nachdenklichem Schweigen fuhr Tom abermals fort:</p>
<p>„Huck, bist du sicher, daß du den Mund halten kannst?“</p>
<p>„Tom, wir <em>müssen</em> den Mund halten! Du weißt doch! Dieser Indianer-Teufel würde nicht mehr Umstände machen, uns abzuschneiden, wie mit ‘nen paar Katzen, wenn wir so dumm wären, zu plappern, und sie henkten ihn <em>nicht</em>. Nun, Tom, komm mal her, laß uns einander schwören — das müssen wir, Tom! — schwören, den Mund zu halten!“</p>
<p>„Mir recht, Huck. ‘s wird wohl das beste sein. Wollen wir also die Hand hochhalten und schwören, daß wir —“</p>
<p>„Halt mal, so geht‘s nicht! Das ist gut genug für kleine, alltägliche Dinge, zum Beispiel bei Mädchen, wenn die einem überall nachlaufen, und wenn sie — hm — wenn man sich verrannt hat, mein‘ ich — aber so was geht bei so ‘ner häßlichen Geschichte nicht — da muß was Schriftliches sein — und Blut!“</p>
<p>Tom stimmte von ganzem Herzen zu. Die Idee war tief — und dunkel — und schrecklich; die Stunde, die Umstände, die Umgebung — alles wirkte zusammen. Er nahm eine glänzend geschliffene Schindel auf, die im Mondlicht lag, zog ein Stückchen Rotstift aus der Tasche, ließ das Mondlicht sein Werk bescheinen, und kritzelte mühsam, jeden schwerfälligen Grundstrich hervorhebend, indem er die Zunge zwischen die Zähne klemmte und sie bei den Haarstrichen wieder freiließ, folgende Zeilen: „Huck Finn und Tom Sawyer schwöhren, Sie wolen über dies den Mund Halten und sie wünschen, dahs Sie Tot niederfallen auff ihren Wech, wenn sie jemalls plautern oter schreiben.“</p>
<p>Huckleberry war ganz erfüllt von Toms Fähigkeit im Schreiben und seinem glanzvollen Stil. Er war im Begriff, mit einem Nagel sich das Fleisch zu ritzen, als Tom einfiel: „Halt, nicht so. Nagel ist Eisen. Der könnte Grünspan haben.“</p>
<p>„Grünspan — was ist das?“</p>
<p>„‘s ist Gift, <em>das</em> ist es! Du würdest sofort davon aufgeschwellt werden — sollst du sehen!“ Darauf nahm Tom eine Nadel, und beide ritzten sich den Ballen des Daumens und drückten einen Blutstropfen heraus. Schließlich, nach vielem Quetschen machte sich Tom daran, seine Anfangsbuchstaben zu malen, indem er den kleinen Finger als Feder benutzte. Dann zeigte er Huckleberry, wie er ein H und ein F zu machen habe — und dann war der Eid bekräftigt.</p>
<p>Sie vergruben die Schindel, häuften unter allerhand Zeremonien und Zauberformeln einen Hügel darüber, und die ihre Zungen bindenden Fesseln waren geschmiedet und der Schlüssel dazu lag in der Erde.</p>
<p>Eine menschliche Figur schlüpfte vorsichtig durch eine Lücke am anderen Ende des verfallenen Gebäudes, aber sie merkten es nicht.</p>
<p>„Tom,“ wisperte Huckleberry, „sichert uns das davor, zu schwatzen — für immer?“</p>
<p>„Aber, natürlich tut‘s das! Mag jetzt geschehen, was will — wir müssen schweigen. Wir wollen tot niederfallen — weißt du‘s denn nicht?“</p>
<p>„Ja, ich rechne, ‘s ist an dem.“</p>
<p>Sie tuschelten noch ‘ne Weile fort. Plötzlich schlug ein Hund mit langem, kläglichem Ton an, gerade jenseits der Stelle der Mauer, wo sie saßen — keine zehn Schritt davon. Die Burschen packten einander unwillkürlich in versteinerndem Schreck.</p>
<p>„Wen von uns mag er meinen?“ flüsterte Huckleberry.</p>
<p>„Ich weiß nicht — schau durch die Ritze — schnell!“</p>
<p>„Nein, tu du‘s, Tom!“</p>
<p>„Ich kann‘s — kann‘s nicht!“</p>
<p>„Bitte, Tom! — Da ist‘s wieder!“</p>
<p>„Ach, Gott sei Dank,“ wisperte Tom, „ich kenne seine Stimme, ‘s ist Bull Harbison.“</p>
<p>„Ach, das ist mal gut! Ich sag dir, Tom, ich war wirklich zu Tod erschrocken! Meinte wahrhaftig, ‘s wär ‘n fremder Hund.“</p>
<p>Der Hund heulte wieder. Die Herzen der Burschen sanken wieder in die Hosen.</p>
<p>„Ach, verflucht, das ist nicht Bull Harbison!“ flüsterte Huckleberry weinerlich.</p>
<p>Tom, zitternd vor Furcht, rappelte sich auf und legte das Auge an die Lücke.</p>
<p>Der Ton seiner Stimme war erbarmungswürdig, als er jetzt flüsterte: „O, Huck, ‘s <em>ist ein fremder Hund</em> —!“</p>
<p>„Schnell, Tom, schnell, <em>wen</em> von uns meint er?“</p>
<p>„Huck, er muß uns beide meinen! — Wir stehen dicht beieinander.“</p>
<p>„O, Tom, ich fürchte — wir sind futsch! Ich rechne, wohin <em>ich</em> komme, darüber kann kein Zweifel sein. Ich bin so schlecht, Tom!“</p>
<p>„Der Teufel hol‘s! Das kommt davon, wenn man Blindekuh spielt und alles tut, wovon der Lehrer sagt, daß man‘s nicht tun soll! Ich wollt‘, ich wär so artig gewesen wie Sid — wenn ich‘s gekonnt hätte. Aber nein, ich mocht‘s nicht sein! Aber wenn ich hier fortkomm‘, ich sag‘ dir, ich werd‘ <em>immer</em> in die Sonntagsschule gehen.“ Und Tom begann ein bißchen zu heulen.</p>
<p>„Du <em>schlecht</em>?“ Und Huckleberry heulte zur Gesellschaft mit. „Ich sag‘s dir, Tom, du bist einfach Gold gegen mich! O, Gott, Gott, Gott — ich wollte, ich wäre nur halb so gut wie du!“</p>
<p>Tom fuhr zusammen und flüsterte: „Schau, Hucky, schau nur! Er wendet uns ja den <em>Rücken</em> zu!“</p>
<p>Hucky schaute hinaus, und Freude erfüllte sein Herz.</p>
<p>„Teufel, ‘s <em>ist</em> so! Tat er‘s vorher auch schon?“</p>
<p>„Ja, er tat‘s, aber ich Dummkopf dachte nicht daran. Na, das ist mal famos. Aber — wen kann er nur meinen?“</p>
<p>Das Heulen hörte auf. Tom spitzte die Ohren. „Pscht —was ist das?“</p>
<p>„‘s klingt wie — wie Schweinegrunzen. Oder, Tom — doch nicht, ‘s schnarcht jemand.“</p>
<p>„Ist‘s das? Wo aber, Hucky?“</p>
<p>„Ich glaub‘ dort, am anderen Ende. ‘s klingt wenigstens so. Pop pflegt zuweilen da zu schlafen — mit den Schweinen, aber, Gott segne dich, er macht alles zittern, wenn er schnarcht. Und dann, ich rechne, <em>hierher</em> kommt er nicht zurück!“</p>
<p>Die Abenteuerlust begann sich in den Seelen der beiden Burschen zu regen.</p>
<p>„Hucky, gehst du mir nach, wenn ich vorangehe?“</p>
<p>„<em>Sehr</em> gern nicht, Tom! Denk, ‘s könnt Joe sein!“</p>
<p>Tom zauderte. Aber sofort regte sich wieder die Versuchung, und sie beschlossen, den Versuch zu wagen, unter dem Vorbehalt, daß sie fliehen dürften, sobald das Schnarchen aufhören würde. So gingen sie auf den Fußspitzen weiter, einer hinter dem anderen. Als sie nur noch fünf Schritt von dem Schnarchenden entfernt waren, trat Tom auf einen Zweig, der mit lautem Knacken brach. Der Mann grunzte, wälzte sich ein bißchen herum, das Mondlicht fiel, auf sein Gesicht — es war Muff Potter. Die Herzen der Burschen hatten still gestanden — wie ihre Leiber, als sich der Mann rührte, aber jetzt war ihre Furcht vergangen. Sie schlichen zurück, schlüpften durch die geborstene Mauer und blieben in einiger Entfernung stehen, um sich zu verabschieden, Das lange unheimliche Geheul erhob sich wieder und klang durch die Nachtluft. Sie wandten sich um und sahen den fremden Hund wenige Schritt von der Stelle entfernt, wo Muff Potter lag, mit dem Kopf diesem zugewandt, die Schnauze zum Himmel gerichtet.</p>
<p>„Herrje, <em>den</em> meint er!“ riefen beide in einem Atem.</p>
<p>„Sag, Tom, sie sagen, ein scheußlicher Köter soll um Johnny Millers Haus herumgeheult haben — vor mehr als zwei Wochen. Und dann hat sich auch ‘ne Eule auf das Dach gesetzt und da geheult, am selben Abend. Und da ist doch bis heute noch keiner gestorben!“</p>
<p>„Ja, ich weiß. Und ich mein‘, das beweist nichts. Fiel nicht am nächsten Samstag Gracie Miller auf den Küchenherd und verbrannte sich schrecklich?“</p>
<p>„Ja — aber sie ist doch nicht gestorben. Noch mehr, sie ist bald wieder ganz gesund.“</p>
<p>„Schon recht, wart‘ nur und red‘ <em>dann</em>! Sie ist futsch, so gewiß als Muff Potter dort futsch ist! Die Neger sagen‘s, und die wissen so was ganz genau, Hucky.“</p>
<p>Damit gingen sie nachdenklich auseinander.</p>
<p>Als Tom in sein Schlafzimmerfenster schlüpfte, war die Nacht schon vorbei.</p>
<p>Er entkleidete sich mit äußerster Vorsicht und schlief ein, sich beglückwünschend, daß niemand etwas von seinem Streifzug gemerkt habe. Er hatte nicht gesehen, daß der brave, schnarchende Sid wach war — seit einer Stunde.</p>
<p>Als Tom aufwachte, war Sid bereits angezogen und fort. Das Licht draußen erschien Tom so spät wie auch die Luft. Er stutzte. Warum hat man ihn nicht gerufen — da er doch um diese Zeit stets schon auf war? Der Gedanke fiel ihm schwer aufs Herz.</p>
<p>In fünf Minuten war er angekleidet und die Treppe hinunter, übel gelaunt und schläfrig. Die Familie saß noch um den Tisch, hatte aber bereits gefrühstückt.</p>
<p>Kein Tadel, aber abgewandte Gesichter. Tiefes Stillschweigen und ein Hauch von Trauer; schwer lasteten sie auf des Sünders Haupt. Er setzte sich und tat ganz lustig, aber es war sehr schwer. Er bekam kein Lächeln, keine Antwort und versank in Stillschweigen, und sein Herz versank in die tiefste Tiefe.</p>
<p>Nach dem Frühstück nahm ihn seine Tante auf die Seite, und Tom atmete ordentlich auf, in der Hoffnung, daß er jetzt werde geprügelt werden; aber es sollte anders kommen. Seine Tante vergoß Tränen über ihn und fragte ihn, wie er hingehen und ihr armes Herz brechen könne. Und schließlich sagte sie, er solle nur sich selbst ruinieren und ihre grauen Haare mit Kummer in die Grube fahren lassen, denn sie habe den Mut in bezug auf ihn nun verloren.</p>
<p>Dies war schlimmer als tausend Prügel, und Toms Herz wurde noch schwerer, als es heute morgen gewesen. Er heulte, er bat um Verzeihung, versprach Besserung wieder und immer wieder, und er erhielt schließlich seine Entlassung mit dem Gefühl, nur halbe Verzeihung und schwaches Vertrauen gefunden zu haben.</p>
<p>Er empfand die Gegenwart gar zu trübselig, um ein Rachegefühl gegen Sid aufkommen zu lassen. So war des letzteren eiliger Rückzug durch die Hintertür überflüssig. Er schlich in düsterster Gemütsverfassung zur Schule und empfing dort seine Prügel wegen des Schwänzens mit Joe Harper am vorigen Tage mit der Miene eines, dessen Herz von schweren Kümmernissen belastet und ganz unempfindlich für Kleinigkeiten ist. Dann verzog er sich auf seinen Platz, stützte die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Hände und starrte auf die Wand mit dem starren Gesichtsausdruck des Leidens, das den höchsten Punkt erreicht hat und nun nicht mehr gesteigert werden kann. Sein Ellbogen drückte auf einen harten Gegenstand. Nach langer Zeit änderte er schläfrig und gleichgültig seine Stellung und nahm den Gegenstand in Augenschein. Er war in Papier gewickelt. Er rollte das Papier auf. Ein langer, starrer, verschleierter Blick — und sein Herz brach! Es war der wundervolle abgebrochene Knopf von gestern! Dieser letzte Tropfen machte das Gefäß überlaufen.</p>