Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Die Abenteuer Tom Sawyers
(Mark Twain, 1876, empfohlenes Alter: 12 - 13 Jahre)

12. Kapitel

<p>Einer der Gründe&comma; die Toms Geist von seiner geheimen Erregung abgezogen hatten&comma; war&comma; daß er einen neuen und wichtigen Gegenstand des Interesses fand&period; Becky Thatcher hatte aufgehört&comma; zur Schule zu kommen&period; Tom hatte mehrere Tage mit seinem Stolze gekämpft und versucht&comma; sie „unter den Wind zu bekommen&comma;&OpenCurlyDoubleQuote; aber vergeblich&period; Er ertappte sich dabei&comma; wie er um ihres Vaters Haus herumstrich&comma; nachts&comma; und sich dabei sehr unglücklich fühlte&period; Sie war krank&period; Wie&comma; wenn sie sterben mußte&excl; In dem Gedanken war Verzweiflung&period; Er hatte kein Vergnügen mehr am Kriegspielen&comma; nicht einmal mehr an seinem Piraten-Beruf&period; Der Glanz des Lebens war dahin&comma; nichts als Finsternis war geblieben&period; Er ließ seinen Reifen liegen und seinen Bogen&semi; er hatte keinen Spaß mehr daran&period; Seine Tante war beunruhigt&period; Sie fing an&comma; allerhand Medizinen an ihm zu probieren&period; Sie gehörte zu den Leuten&comma; die auf jede Medizin schwören und alle neu erfundenen Heilmethoden&period; Sie war unermüdlich in ihren Experimenten&period; Sobald sie von etwas Neuem in der Branche hörte&comma; brannte sie darauf&comma; es zu probieren&semi; nicht an sich selbst&comma; denn sie war nie leidend&semi; aber am ersten besten&comma; der ihr in die Hände fiel&period; Sie war Abonnentin sämtlicher „Heil&OpenCurlyDoubleQuote;-Zeitschriften und jedes gedruckten&comma; wissenschaftlichen Betruges&semi; den größten Unsinn&comma; mit dem nötigen feierlichen Ernst vorgetragen&comma; nahm sie wie ein Evangelium auf in ihrer Unwissenheit&period; Alle Abhandlungen über Ventilation&comma; das Zubettgehen und Aufstehen&comma; Essen und Trinken&comma; über das Maß der nötigen Bewegung&comma; die Gemütsverfassung&comma; die Art der Kleidung&comma; erschienen ihr einfach einwandfrei&comma; und sie merkte gar nicht&comma; daß die Gesundheits-Journale des laufenden Monats gewöhnlich all das widerriefen&comma; was sie im Monat vorher empfohlen hatten&period; Sie war einfachen Herzens und so ehrenhaft&comma; wie der Tag lang ist&comma; und so war sie ein leichtes Opfer&period; Sie sammelte ihre prahlerischen Zeitschriften mit den Quacksalber-Medizinen&comma; und so gewaffnet&comma; ritt sie&comma; den Tod hinter sich&comma; auf ihrem fahlen Pferd&comma; „die Hölle hinter sich&comma;&OpenCurlyDoubleQuote; um eine Metapher zu brauchen&period; Aber sie argwöhnte niemals&comma; daß sie nicht ein Engel der Genesung und der Balsam des Herrn in Person für die leidende Nachbarschaft sei&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Die Wasserbehandlung war neu und Toms übles Befinden kam ihr wie gerufen&period; Jeden Morgen in aller Frühe wurde er herausgeholt&comma; in einen Holzschuppen geschleppt und mit einer Sintflut kalten Wassers überschüttet&period; Dann rieb sie ihn trocken mit einem Handtuche&comma; gleich einer Feile&comma; und er wurde zurücktransportiert&period; Darauf wurde er in ein nasses Tuch gerollt und wieder unter seine Bettdecke gestopft&comma; bis er schwitzte&comma; wie eine Seele im Fegfeuer&comma; und „ihre Schmutzflecken drangen durch alle Poren heraus&comma;&OpenCurlyDoubleQuote; wie Tom sagte&period; Indessen&comma; alledem zum Trotz&comma; wurde der Junge immer melancholischer&comma; niedergeschlagener und gleichgültiger&period; Sie fügte heiße Bäder&comma; Sitzbäder&comma; Gießbäder und Sturzbäder hinzu&period; Der Junge blieb leblos wie eine Leiche&period; Sie begann das Wasser mit Blasen ziehenden Haferschleimpflastern zu versetzen&period; Sie überlegte seine Aufnahmefähigkeit und füllte ihn wie einen Krug täglich mit allen möglichen quacksalberischen Mittelchen an&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Tom war allmählich gegen all diese Verfolgungen gleichgültig geworden&period; Dieser Zustand erfüllte der alten Dame Herz mit Entsetzen&period; Diese Gleichgültigkeit mußte um jeden Preis gebrochen werden&period; Zu dieser Zeit gerade vernahm sie vom „Schmerzentöter&OpenCurlyDoubleQuote;&period; Sie ordnete sofort täglich ein Lot an&period; Sie versuchte es selbst und war sehr befriedigt davon&period; Es war wie Feuer in flüssiger Form&period; Sie ließ die Wasserkur und alle anderen Methoden und beschränkte sich auf den Schmerzentöter&period; Sie gab Tom einen Teelöffel und wartete ängstlich auf die Wirkung&period; Ihre Unruhe war mit einem Schlage zu Ende&comma; ihr Geist hatte wieder Frieden&period; Denn die „Gleichgültigkeit&OpenCurlyDoubleQuote; war gebrochen&period; Der Bursche hätte kein wilderes&comma; mehr von Herzen kommendes „Interesse&OpenCurlyDoubleQuote; zeigen können&comma; wenn sie ein Feuer unter ihm angezündet hätte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Tom fühlte&comma; daß es Zeit war&comma; aufzuwachen&period; Diese Lebensweise hätte ja ganz romantisch sein können&comma; war aber nachgerade zu anstrengend und zu eintönig&period; So grübelte er über verschiedenen Plänen seiner Befreiung und verfiel schließlich darauf&comma; sich als Freund des Schmerzentöters zu bekennen&period; Er verlangte so oft danach&comma; daß er lästig wurde&comma; und seine Tante ihm schließlich befahl&comma; sich selbst zu helfen und sie in Ruhe zu lassen&period; Wäre es Sid gewesen&comma; kein Schatten würde ihre Freude getrübt haben&semi; da es aber Tom war&comma; beobachtete sie die Flasche mit Aufmerksamkeit&period; Sie fand&comma; daß die Medizin beständig weniger wurde&comma; es fiel ihr aber nicht ein&comma; daß der Junge eine Bodenritze im Speisezimmer damit anfüllte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Eines Tages war Tom wieder bei dieser Arbeit&comma; als Tante Pollys gelbe Katze des Weges kam&comma; schnurrend&comma; den Teelöffel begehrlich betrachtete und um ein bißchen bettelte&period; Tom sagte zu ihr&colon; „Bitt nicht drum&comma; wenn du&OpenCurlyQuote;s nicht brauchst&comma; Peter&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Aber Peter gab zu verstehen&comma; er <em>habe<&sol;em> es nötig&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„Überleg&OpenCurlyQuote;s noch mal&period;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Peter blieb dabei&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„Na&comma; du hast drum gebeten&comma; und ich will&OpenCurlyQuote;s dir geben&semi; aber wenn&OpenCurlyQuote;s dir nicht gefällt&comma; darfst du niemand Vorwürfe machen als dir selbst&period;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Peter war einverstanden&semi; so öffnete Tom seine Schnauze und goß den Schmerzenztöter hinein&period; Peter machte einen Riesensatz in die Luft&comma; stieß ein Kriegsgeheul aus und fuhr immer rund im Kreise herum durchs Zimmer&comma; gegen Möbel stoßend&comma; Blumentöpfe umwerfend&comma; kurz&comma; lauter Verwirrung anrichtend&period; Dann erhob er sich auf die Hinterbeine und tanzte sinnlos vor Vergnügen herum&comma; den Kopf über die Schultern zurückgeworfen&comma; mit einer Stimme&comma; aus der grenzenloses Behagen klang&period; Tante Polly kam gerade noch rechtzeitig herein&comma; um sie mit einem letzten Hurra durchs Fenster fliegen zu sehen&comma; mit ihr die Reste der Blumentöpfe&period; Die alte Dame stand starr vor Erstaunen&comma; über ihre Brillengläser hinwegschauend&period; Tom lag auf der Erde und krümmte sich vor Lachen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„Tom&comma; was um des Himmels willen fehlt der Katze&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„Ich weiß nicht&comma;&OpenCurlyDoubleQuote; stöhnte der Junge&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„So was hab&OpenCurlyQuote; ich doch noch nicht gesehen&excl; Was <em>kann<&sol;em> sie haben&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„In der Tat&comma; ich weiß nicht&comma; Tante&period; Katzen tun immer so&comma; wenn sie vergnügt sind&period;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„Tun sie — wirklich&quest;&OpenCurlyDoubleQuote; Es war etwas in dem Ton&comma; was Tom stutzen machte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„Hm — ja&period; Das heißt — ich meine&comma; sie tun&OpenCurlyQuote;s&period;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„Du <em>meinst<&sol;em>&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„Hm — ja —&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Die alte Dame bückte sich&comma; Tom wartete mit ängstlichem Interesse&period; Zu spät entdeckte er ihre List&period; Der Griff des Teelöffels war unter der Tischdecke sichtbar&period; Tante Polly zog ihn heraus und hielt ihn in die Höhe&period; Tom fuhr zusammen und senkte die Augen&period; Tante Polly hob ihn an dem gewöhnlichen Henkel — seinem Ohr — in die Höhe und klopfte ihm mit ihrem Fingerhut tüchtig auf den Kopf&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„Nun&comma; sag&OpenCurlyQuote; mal&comma; <em>wozu<&sol;em> mußt du das arme Tier so quälen&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„Ich hab&OpenCurlyQuote;s ja aus Mitleid getan — weil sie keine Tante hat&period;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„Hat keine Tante&excl; Hansnarr&excl; Was hat das hier zu tun&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„&OpenCurlyQuote;ne Menge&period; Denn hätt&OpenCurlyQuote; sie eine gehabt&comma; so würd&OpenCurlyQuote; sie selbst &OpenCurlyQuote;s ihm gegeben haben&excl; Sie hätt&OpenCurlyQuote; ihr die Gedärme rausgeröstet&comma; ohne mehr zu fühlen&comma; als wenn&OpenCurlyQuote;s ein Mensch gewesen wäre&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Tante Polly fühlte plötzlich Gewissensbisse&period; Das setzte die Sache in ein neues Licht&period; Was grausam war gegen eine Katze&comma; mußte auch gegen einen kleinen Burschen grausam sein&period; Sie begann&comma; zu seufzen&comma; sie fühlte sich traurig&period; Ihre Augen wurden ein bißchen feucht&comma; sie legte die Hand auf Toms Kopf und sagte freundlich&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>„Ich hab&OpenCurlyQuote;s gut gemeint&comma; Tom&period; Und Tom&comma; es <em>hat<&sol;em> dir genützt&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Tom schaute zu ihr auf mit ein bißchen Schelmerei in seinem Ernst und sagte&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>„Ich weiß wohl&comma; Tante&comma; daß du&OpenCurlyQuote;s gut meintest&comma; und ich meinte es gut mit Peter&period; Es tat <em>ihm<&sol;em> auch gut&excl; Ich hab&OpenCurlyQuote; ihn nie so lustig rumlaufen gesehen —&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„Na&comma; mach&comma; daß du weiter kommst&comma; Tom&comma; ehe du mich wieder ärgerst&period; Und versuch doch mal &OpenCurlyQuote;n braver Junge zu sein&comma; und du brauchst auch keine Medizin mehr zu nehmen&period;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Tom kam sehr frühzeitig zur Schule&period; Es war bekannt geworden&comma; daß dieses sehr seltene Ereignis in letzter Zeit jeden Tag sich zugetragen hatte&period; Und dann&comma; wie seit kurzem stets&comma; lungerte er am Tor des Schulhofes&comma; statt mit seinen Kameraden zu spielen&period; Er sagte&comma; er wäre krank&comma; und er sah auch so aus&period; Er stellte sich&comma; als sähe er überall hin&comma; wohin seine Blicke tatsächlich beständig gerichtet waren — die Straße hinunter&period; Plötzlich kam Jeff Thatcher in Sicht und Toms Miene hellte sich aus&period; Er spähte einen Augenblick angestrengt und wandte sich dann betrübt ab&period; Als Jeff ankam&comma; hielt ihn Tom an und suchte ihn geschickt über Becky auszuholen&comma; aber der herzlose Jeff tat&comma; als sähe er den Köder gar nicht&period; Tom wartete und wartete&comma; hoffend&comma; sobald ein wehender Rock in Sicht kam und die Inhaberin desselben verwünschend&comma; sobald er sah&comma; daß es nicht die Rechte war&period; Schließlich erschienen keine Röcke mehr&comma; und er verfiel in hoffnungslosen Trübsinn&period; Dann auf einmal kam doch noch ein Rock durchs Tor herein&comma; und Toms Herz tat einen mächtigen Sprung&period; Im nächsten Moment war er draußen und schoß drauf los wie ein Indianer&comma; springend&comma; lachend&comma; Buben stoßend&comma; mit Risiko von Leib und Leben über den Zaun setzend&comma; Purzelbäume machend&comma; auf dem Kopf stehend — kurz&comma; lauter heroische Dinge verrichtend und fortwährend hinüber schielend&comma; ob Becky Thatcher ihn beobachtete&period; Aber sie schien von alledem gar nichts wahrzunehmen&semi; sie schaute nicht hin&period; War es möglich&comma; daß sie seine Anwesenheit wirklich nicht bemerkt hatte&quest; Er betrieb seine Kunststücke in ihrer unmittelbaren Nähe&semi; fuhr&comma; ein Kriegsgeheul ausstoßend&comma; um sie herum&comma; schlug einem Jungen die Mütze herunter&comma; schleuderte sie auf den Schulhof&comma; brach durch eine Gruppe&comma; sie nach allen Richtungen auseinandersprengend und fiel dabei selbst gerade Becky vor die Nase hin&comma; sie fast umstoßend — sie wandte sich ab&comma; das Näschen rümpfend&comma; und er hörte sie sagen&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>„Pa&excl; Einige Burschen kommen sich schon sehr wichtig vor — immer müssen sie sich breit machen&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Tom wurde blutrot&period; Er rappelte sich auf und trollte davon&comma; zermalmt und mutlos&period;<&sol;p>

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