Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Die Abenteuer Tom Sawyers
(Mark Twain, 1876, empfohlenes Alter: 12 - 13 Jahre)

18. Kapitel

<p>Im Dorfe herrschte indessen an jenem friedlichen Samstag nachmittag durchaus nicht besondere Heiterkeit&period; Harpers und Tante Pollys Familie waren in Trauer und Kummer und vielen Tränen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Ungewöhnliche Ruhe lag über dem Ort&comma; obwohl es auch sonst still genug herzugehen pflegte&period; Mit zerstreuter Miene gingen die Einwohner ihren Geschäften nach und sprachen wenig&semi; aber sie seufzten oft&period; Der freie Samstag erschien eine Last für die Kinder&period; Sie hatten kein Herz für ihre Spiele und gaben sie schließlich ganz auf&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Nachmittags begab sich Becky Thatcher in trüber Stimmung auf den verlassenen Schulhof und fühlte sich sehr einsam&period; Aber sie fand dort nichts&comma; was sie hätte aufheitern können&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„O&comma; wenn ich doch seinen alten Messingknopf wiederfinden könnte&comma;&OpenCurlyDoubleQuote; seufzte sie halblaut&period; „Jetzt hab&OpenCurlyQuote; ich gar nichts zur Erinnerung an ihn&excl;&OpenCurlyDoubleQuote; Und sie schluckte ein paar Tränen hinunter&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Plötzlich blieb sie stehen und flüsterte&colon; „Grad&OpenCurlyQuote; <em>hier<&sol;em> war&OpenCurlyQuote;s&period; Ach Gott&comma; wenn ich&OpenCurlyQuote;s nochmal tun sollte&comma; ich würd&OpenCurlyQuote;s nicht sagen — ich würd&OpenCurlyQuote;s nicht sagen für die ganze Welt&excl; Aber er ist jetzt fortgegangen — und ich werd&OpenCurlyQuote; ihn nie — nie wiedersehen —&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Dieser Gedanke ließ sie zusammenbrechen&comma; sie schlich fort&comma; während die Tränen ihr über die Backen niederflossen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Dann kam ein Haufe Buben und Mädel — Spielkameraden von Tom und Joe&comma; — schauten über den Zaun und besprachen in halbem Ton&comma; wie Tom dies und das tat in der letzten Zeit&comma; wo sie ihn gesehen hatten&comma; und wie Joe diesen und jenen nebensächlichen Ausspruch getan hatte &lpar;mit unheimlichem Voraussehen der Ereignisse&comma; wie sie jetzt wußten&excl;&rpar; — und jeder Sprecher bezeichnete ganz genau die Stelle&comma; wo die vermißten Flüchtlinge damals gestanden hatten&comma; und dann fügten sie hinzu&colon; „und ich stand gerad so&comma; gerad wie ich jetzt steh&OpenCurlyQuote;&comma; und als wenn <em>du er<&sol;em> wärest&comma; und ich hab&OpenCurlyQuote; genau auf alles geachtet&comma; und er lächelte — genau <em>so<&sol;em> — und dann überlief es mich ordentlich&comma; ganz — schreck — lich&comma; ihr wißt ja auch&comma; und ich konnt&OpenCurlyQuote; mir gar nicht denken&comma; <em>was<&sol;em> es sein könne&comma; aber <em>jetzt<&sol;em> weiß ich&OpenCurlyQuote;s&period;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Darauf erhob sich ein Streit&comma; wer die toten Jungen zuletzt gesehen habe&comma; viele erhoben diesen traurigen Anspruch und boten Beweise&comma; mehr oder weniger durch Zeugen erhärtet&comma; an&semi; und als endgültig festgestellt war&comma; wer sie in der Tat zuletzt gesehen und die letzten Worte mit ihnen gewechselt hatte&comma; bekamen die Betreffenden dadurch eine Art geheiligter Bedeutung und wurden von allen angestaunt und beneidet&period; Ein armer&comma; kleiner Bursche&comma; der niemals besonders beachtet worden war&comma; sagte&comma; mit ordentlich stolzem Ausdruck&colon; „Na&comma; <em>mich<&sol;em> hat Tom Sawyer mal geprügelt&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Aber dieser Ruhm war sehr vergänglich&period; Die meisten der Jungen konnten das sagen&comma; und das verringerte die Auszeichnung doch sehr&period; Die Gesellschaft trollte sich&comma; mit halber Stimme noch weiter Erinnerungen an die verlorenen Helden austauschend&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Als am nächsten Tage die Sonntagsschule zu Ende war&comma; begann die Glocke zu läuten&comma; statt&comma; wie sonst&comma; zu klingeln&period; Es war ein sehr stiller Sonntag&comma; und der traurige Ton schien sich mit der sinnenden Ruhe&comma; die auf der Natur lag&comma; zu vermischen&period; Die Dorfbewohner trafen nach und nach ein&comma; in der Vorhalle einen Augenblick stehen bleibend und wispernd sich über das traurige Ereignis unterhaltend&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Aber im Gotteshause wurde nicht geflüstert&period; Nur das feierliche Rascheln der Kleider&comma; indem sie sich auf ihre Plätze begaben&comma; störte hier die Stille&period; Niemand wußte sich zu erinnern&comma; daß die Kirche je so voll gewesen wäre&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Es war eine erwartungsvolle&comma; dumpfe Stille&comma; und dann trat Tante Polly&comma; gefolgt von Sid und Mary und durch die Harpersche Familie&comma; alle in tiefer Trauer&comma; und die ganze Gemeinde sowie der Geistliche erhoben sich ehrfurchtsvoll und blieben stehen&comma; bis die Leidtragenden auf der ersten Bank sich niedergelassen hatten&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Wieder trat allgemeines Schweigen ein&comma; nur zuweilen durch unterdrücktes Schluchzen unterbrochen&comma; und dann erhob der Geistliche die Hände und betete&period; Ein ergreifendes Lied wurde gesungen&comma; worauf der Text folgte&colon; Ich bin der Trost und das Leben&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Im Verlauf seiner Predigt gab der Geistliche solche Bilder von der Sanftmut&comma; dem ehrenhaften Lebenswandel und den vielversprechenden Talenten der verlorenen Durchgänger&comma; daß jedermann&comma; sich einbildend&comma; diese Porträts zu erkennen&comma; Schmerz empfand bei dem Gedanken&comma; daß er gegen all das bisher blind gewesen sei und an den armen Jungen beständig nichts als Fehler und Flecken gesehen hatte&period; Der Geistliche erzählte manch rührendes Ereignis aus dem Leben der Verschwundenen&comma; das ihre sanften&comma; edelmütigen Naturen zeigte&comma; und das Volk konnte jetzt leicht sehen&comma; <em>wie<&sol;em> edel und schön diese Vorkommnisse waren und sich mit Kummer daran erinnern&comma; daß sie ihnen damals&comma; als sie sich zutrugen&comma; als arge Spitzbubenstreiche erschienen waren&comma; die den Ochsenziemer verdienten&period; Die Gemeinde wurde mehr und mehr gerührt&comma; je weiter die ergreifende Predigt fortschritt&comma; bis schließlich alles geknickt war und seine tränenreichen Klagen zu einem Chorus selbstanklagenden Schluchzens vereinigte&semi; sogar der Geistliche überließ sich seinen Gefühlen und weinte auf offener Kanzel&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Auf dem Chor entstand ein Rascheln&comma; auf das aber niemand achtete&semi; einen Augenblick später knarrte die Tür der Kirche&period; Der Geistliche hob die strömenden Augen vom Taschentuch und stand wie angedonnert&period; Eins um das andere Augenpaar folgte dem seinigen&comma; und dann&comma; wie von <em>einem<&sol;em> Impuls getrieben&comma; erhob sich die Gemeinde und sah&comma; wie die drei toten Jungen ganz gemütlich den Gang heraufgeschlendert kamen&comma; Tom voran&comma; dann Joe&comma; zuletzt Huck&comma; eine Ruine wandelnder Lumpen&comma; mit schafsmäßig-verdutztem Gesicht&period; Sie waren in dem unbenutzten Chor versteckt gewesen und hatten ihrer eigenen Leichenrede zugehört&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Tante Polly&comma; Mary und die Harpers warfen sich auf die Wiederauferstandenen&comma; sie mit Küssen überschüttend und Danksagungen ausstoßend&comma; während der arme Huck verwirrt und unbehaglich dabei stand&comma; ohne im geringsten zu wissen&comma; was er mit sich anfangen und wohin er sich vor all den Augen&comma; von denen ihn keines bewillkommnete&comma; wenden sollte&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Er stand einen Augenblick zögernd und machte einen schüchternen Versuch&comma; sich wegzustehlen&comma; aber Tom ergriff ihn und sagte&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>„Tante Polly&comma; &OpenCurlyQuote;s ist nicht recht&period; &OpenCurlyQuote;s muß sich jemand freuen&comma; Huck wiederzusehen&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„Und &OpenCurlyQuote;s soll auch&excl; Ich <em>freue<&sol;em> mich&comma; ihn zu sehen&comma; armes&comma; verlassenes Kind&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Und Tante Polly wandte ihre liebenswürdige Aufmerksamkeit jetzt ihm zu — was ihn nur noch unbehaglicher machte als vorher&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Plötzlich schrie der Geistliche aus vollem Halse&colon; „Lobet den Herren&comma; den mächtigen König der Ehren&excl; — Singt — und legt euer Herz rein&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Und sie taten&OpenCurlyQuote;s&period; Daß alte Lob- und Danklied drang mit triumphierender Inbrunst empor&comma; und während es alles erzittern machte&comma; schaute Tom Sawyer&comma; der Seeräuber&comma; um sich auf die neidische Jugend ringsum und bekannte in seinem Herzen&comma; daß dies der stolzeste Moment in seinem Leben sei&excl;<&sol;p>&NewLine;<p>Als die Gemeinde hinausströmte&comma; meinten alle&comma; sie möchten sich wohl nochmal lächerlich machen um dies Danklied nochmal so singen zu hören&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Tom erhielt an diesem Tage mehr Püffe und Küsse — je nach Tante Pollys Stimmung&comma; als vorher in einem Jahre&semi; und er wußte jetzt ganz genau&comma; was am meisten Dank gegen Gott und Liebe zu ihm ausdrückte&period;<&sol;p>

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