Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Die Abenteuer Tom Sawyers
(Mark Twain, 1876, empfohlenes Alter: 12 - 13 Jahre)

19. Kapitel

Das war Toms großes Geheimnis — der Gedanke, nach Hause zurückzukehren und mit seinen Piratenbrüdern ihre eigene Grabrede anzuhören. Sie waren in der Nacht auf den Sonntag auf einem Baumstamm ans Missouriufer hinübergeschwommen, wo sie fünf oder sechs Meilen unterhalb des Dorfes landeten; hatten darauf dicht beim Orte im Walde geschlafen bis beinahe zum hellen Tage, waren durch mehrere abgelegene Gäßchen zur Kirche geschlichen und hatten ihren Schlaf auf dem Chor zwischen einem Chaos von zerbrochenen Bänken beendet.

Beim Frühstück am Montag morgen waren Tante Polly und Mary sehr zärtlich mit Tom und sehr aufmerksam auf seine Wünsche.

Die Unterhaltung war ungewöhnlich lebhaft. Im Verlaufe derselben sagte Tante Polly: „Na, Tom, ich will nicht grad‘ sagen, daß es ‘ne besonders nette Sache war, alle Leute in Trübsal zu halten, fast ‘ne Woche lang, während ihr Jungen euch ‘ne gute Zeit machtet; aber traurig ist‘s, Tom, daß du so verstockt sein konntest, mich leiden zu lassen! Wenn du auf ‘nem Baumstamme zu deiner Leichenrede rüberkommen konntest, hättst du wohl auch kommen können, um mir ‘n Zeichen zu geben, daß du nicht tot seiest, sondern einfach davongelaufen.“

„Ja, Tom,“ sagte Mary, „das hättst du tun können. Und ich glaube, du hätt‘st es getan, wenn du dran gedacht hättest.“

„Hättst du, Tom?“ fragte Tante Polly, während ihr Gesicht sich erwartungsvoll aufhellte. „Na — sag‘, hättst du‘s getan, wenn du dran gedacht hättest?“

„Ich — na — ich weiß doch nicht! ‘s hätt‘ ja alles verraten!“

„Tom, ich hätt‘ doch gedacht, du hättst mich zu lieb für so was,“ seufzte Tante Polly traurig, in einem Ton, bei dem Tom sehr ungemütlich wurde. „‘s wär‘ doch etwas gewesen, wenn du dir die Mühe genommen hättst, dran zu denken — wenn du‘s schon nicht tatst.“

„Na, Tantchen, gräm, dich nur nicht darüber,“ beruhigte Mary. „‘s ist mal so Toms flüchtige Art — er ist ja immer so zerstreut, daß er nie an was denkt.“

„Um so schlimmer. Sid hätt‘ dran gedacht. Und Sid würd‘ auch gekommen und ‘s getan haben. Tom, du wirst eines Tages noch mal zurückdenken, wenn‘s zu spät ist, und wünschen, daß du dich ‘n bißchen mehr um mich gekümmert hättst, wo‘s dir doch so leicht gewesen wär‘.“

„Na, Tantchen, du weißt doch, ich hab‘ dich lieb,“ schmeichelte Tom.

„Ich würd‘s besser wissen, wenn du‘s mehr zeigtest.“

„Wollt‘, ich hätt‘ dran gedacht,“ sagte Tom in reuevollem Ton. „aber — ich hab‘ wenigstens geträumt von dir. ‘s ist doch was, nicht?“

„‘s ist nicht viel — ‘s ist für ‘ne Katze viel — aber ‘s ist mehr als nichts. Was hast du denn geträumt?“

„Na, in der Mittwochnacht träumte mir, ihr säßet zusammen, dicht beim Bett, Sid saß auf der Holzkiste und Mary dicht bei ihm.“

„So war‘s — so war‘s ganz genau! Bin doch froh, daß du wenigstens von uns zu träumen dich bequemt hast.“

„Und ich träumte, Joe Harpers Mutter wär‘ hier.“

„Na — sie war hier! Träumtest du noch mehr?“

„O — ‘nen Haufen! Aber ‘s ist jetzt alles verschwommen.“

„Na, versuch‘s nur — besinn‘ dich — geht‘s nicht?“

„‘s scheint mir so was, als wenn der Wind — der Wind ausgeblasen hätt‘ — —“

„Denk‘ besser nach, Tom! Der Wind hat nichts ausgeblasen — na!“

Tom preßte während eines Augenblicks gespannten Nachdenkens die Finger gegen die Stirn und sagte dann: „Na — jetzt weiß ich‘s! Jetzt hab‘ ich‘s wieder! Er ließ das Licht flackern —“

„Gott erbarm‘ dich! Weiter. Tom, weiter!“

„Und mir kam‘s vor, als hättst du gesagt: ‚Na — ich glaub‘ gar, die Tür —‘“

„Weiter, Tom!“

„Laß mich ‘nen Augenblick nachdenken! Nur ‘nen Augenblick. — Richtig, ja, — du sagtest, du meintest, die Tür wär‘ offen.“

„So wahr ich hier sitz‘ — ich sagte so! Sagt‘ ich‘s nicht, Mary? Weiter!“

„Und dann — und dann — — ja, ich weiß nicht ganz gewiß, aber ‘s ist mir doch, als hättst du Sid hingehen lassen und — und — —“

„Na, na? Wohin ließ ich ihn gehen? Was ließ ich ihn tun, Tom?“

„Du ließest ihn — du, — ach, du ließest, ihn die Tür zumachen!“

„Beim Himmel, ‘s ist so! So was hab‘ ich doch mein‘ Tag‘ noch nicht gehört! Sag‘ mir keiner mehr, Träume bedeuten nichts! Die überkluge Harper soll davon zu wissen bekommen, eh ich ‘ne Stunde älter bin. Möcht‘ doch sehen, wie sie mit ihrem Geschwätz von Aberglauben um das ‘rum kommt! Weiter, Tom!“

„O, jetzt ist mir alles so klar wie der Tag! Dann sagtest du, ich wär‘ nicht schlecht, nur leichtsinnig und gedankenlos, und dächte nie an irgend was — wie — wie — glaub‘, ‘s war ‘n Füllen — oder so.“

„Na, so war‘s, ja! Na — Gottes Wunder! Weiter, Tom!“

„Und dann fingst du an zu weinen.“

„Ja, ich tat‘s ich tat‘s! Und wahrhaftig nicht zum erstenmal. — Und dann —“

„Dann begann Mrs. Harper zu weinen und sagte, Joe wär‘ grad‘ so einer, und sie wollte, sie hätt‘ ihn nicht gehaun deswegen, daß er den Rahm genommen haben sollte, den sie doch selbst weggeschüttet gehabt hätt‘ —“

„Tom! Der Geist war über dir! Du hattst Sehergabe — ja, gewiß, das hattst du! Herrgott! Weiter, Tom!“

„Dann sagte Sid — — er sagte —“

„Glaub‘, ich sagte gar nichts,“ warf Sid schnell ein.

„Doch, du tatst es Sid,“ entgegnete Mary.

„Laßt das Zanken und laßt Tom sprechen. Was sagte er, Tom?“

„Er sagte — ich denk‘, er sagte, er hoffe, ich wär besser dran, wo ich setzt sei, aber wenn ich manchmal besser gewesen wär‘ —“

„Da — hört ihr‘s? ‘s waren seine eigenen Worte!“

„Und du leuchtetest ihm ordentlich heim.“

„Ich denke wohl, daß ich‘s tat! ‘s muß ein Engel hier gewesen sein! Ein Engel war hier, ‘s ist zweifellos!“

„Und Mrs. Harper erzählte von Joe, wie er ihr durch ‘nen Schwärmer ‘nen Schrecken eingejagt hätte, und du erzähltest von Peter und dem ‚Schmerzenstöter‘ —“

„So wahr ich leb‘!“

„Und dann schwatztet ihr alle durcheinander, daß der Fluß nach uns durchsucht worden sei und daß am Sonntag unsere Leichenfeier sein sollt‘, und dann fielst du und die alte Mrs. Harper euch in die Arme und weintet, und dann ging sie fort.“

„‘s war ganz genau so! ‘s war genau so, so gewiß, wie ich hier aus dem Stuhl sitz‘. Tom, hättst es nicht besser erzählen können, wenn du hier gewesen wärst! Und was dann? Weiter, Tom!“

„Dann träumte ich, daß du für mich betetest — und ich konnt dich sehen und jedes Wort hören, das du sagtest. Und dann gingst du zu Bett, und ich war so traurig, daß ich auf ‘n Stück Sykomorenrinde schrieb: ‚Wir sind nicht tot — wir sind nur fort, um Piraten zu werden,‘ und legte das auf den Tisch neben den Leuchter. Und dann sahst du so lieb aus, wie du dalagst und schliefst, daß ich träumte, ich beugte mich über dich und küßte dich.“

„Tatst du‘s, Tom? Tatst du‘s? Dafür vergeb‘ ich dir wahrhaftig alles!“

Und sie schloß den Jungen mit solcher Inbrunst in ihre Arme, daß er sich wie der schwärzeste der Verräter erschien.

„‘s war sehr nett — ‘s war aber doch nur ein — Traum,“ brummte Sid für sich halblaut, aber hörbar.

„Halt den Mund, Sid! Jedermann tut im Traum ganz genau dasselbe, was er tun würde, wenn er wach wär‘! Hier, Tom, ist ein schöner Apfel, den ich für dich aufgehoben hab‘, wenn du mal wiedergefunden würdst — nun fort zur Schule! Ich dank dem lieben Gott und Vater für uns alle, daß ich dich wiederbekommen hab‘, er ist langmütig und barmherzig gegen die, so an ihn glauben und sein Wort halten; obwohl ich weiß, daß ich seine Güte nicht verdiene; aber wenn nur die Guten seinen Segen hätten und seine Hand, ihnen auf den rauhen Pfaden des Lebens beizustehen, würd‘ hier wenig Fröhlichkeit sein, und wenige würden, wenn die lange Nacht kommt, zu seiner Herrlichkeit eingehen dürfen. — Na, macht fort, Sid, Mary, Tom — macht fort, packt euch, habt mich lange genug aufgehalten.“

Die Kinder gingen zur Schule und die alte Dame zu Mrs. Harper, um ihren Unglauben durch Toms wundervollen Traum zu vernichten. Sid hütete sich wohl, den Gedanken auszusprechen, der ihn beherrschte, als er das Haus verließ: „Ein bißchen durchsichtig — ‘s ist doch zu lang für ‘nen Traum, — und nicht ein Irrtum.“

Welch ein Held war Tom geworden! Er sprang und tollte nicht mehr herum, sondern bewegte sich mit würdevollem Ernst, wie es sich für einen Piraten geziemt, der fühlt, daß er der Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit ist. Und er war es in der Tat; er suchte sich so zu stellen, als sehe er die Blicke nicht und höre nicht die Bemerkungen, wie er so dahinschlenderte, aber sie waren wahrer Balsam für ihn. Kleinere Jungen als er hefteten sich an seine Fersen, stolz, mit ihm gesehen zu werden und von ihm geduldet, als wäre er der Trommler an der Spitze einer Prozession gewesen oder der Elefant, der eine Menagerie in die Stadt führt. Gleichalterige Jungen wollten gar nicht wissen, daß er überhaupt fortgewesen sei, aber sie verzehrten sich nichtsdestoweniger vor Neid. Sie hätten alles dafür gegeben, seine dunkle, sonnenverbrannte Haut zu besitzen und seinen glänzenden Ruf; und Tom hätte beides nicht einmal für einen Zirkus fortgegeben.

In der Schule machten die Kinder so viel aus ihm und Joe, und zeigten ihnen so wortreiche Bewunderung, daß es gar nicht lange dauerte, bis die beiden Helden ganz unleidlich aufgeblasen wurden. Sie fingen an, ihre Abenteuer ihren hungrigen Zuhörern zu erzählen — aber sie fingen immer nur an; die Geschichten konnten auch kein Ende haben bei einer an ausschmückenden Abschweifungen so fruchtbaren Phantasie als die ihrige war. Und schließlich, als sie ihre Pfeifen herauszogen und nachlässig anfingen, zu rauchen, war der höchste Gipfel des Ruhmes erreicht.

Tom nahm sich vor, in Zukunft sich nicht mehr um Becky Thatcher zu kümmern. Ruhm war ihm genug. Er wollte nur für den Ruhm leben. Nun er eine hervorragende Persönlichkeit war, würde sie wohl versuchen, wieder „anzubinden“. Na, mochte sie — sie sollte sehen, daß er ebenso unempfänglich sein konnte wie andere Leute. Grade kam sie daher. Tom stellte sich, als sehe er sie nicht. Er ging fort und gesellte sich zu einer anderen Gruppe Buben und Mädchen und begann zu erzählen. Bald merkte er, daß sie aufgeregt, mit glühenden Backen und glänzenden Augen, umhertrippelte und sich stellte, als denke sie an gar nicht anderes, als sich mit anderen Schulmädchen herumzuschubsen und ein lautes Gelächter auszustoßen, wenn sie eine erwischt hatte; aber er merkte auch, daß sie ihre Gefangenen immer in seiner Nähe machte, und daß sie dann stets verstohlen zu ihm hinüberschielte. Das schmeichelte der lasterhaften Eitelkeit in ihm, und statt daß es ihn getrieben hätte, wieder einzulenken, machte es ihn nur noch arroganter und ließ ihn noch geflissentlicher eine Miene aufsetzen, als wisse er gar nichts von ihrer Anwesenheit. Plötzlich gab sie ihr Umhertollen auf, strich unentschlossen herum, seufzte ein paarmal und suchte Tom verstohlen und sehnsuchtsvoll mit den Augen. Dann entdeckte sie, wie angelegentlich Tom mit Amy Lawrence plauderte. Sie empfand einen stechenden Schmerz und wurde auf einmal zerstreut und unsicher. Sie nahm sich vor, davonzugehen, aber ihre Füße trugen sie, ihrem Vorsatz zum Trotz, wieder zu der Gruppe hin. Sie sagte zu einem Mädchen, unmittelbar neben Tom — mit erzwungener Ausgelassenheit: „Du, Mary Austin! Du böses Mädel, warum kamst du gestern nicht zur Sonntagsschule?“

„Ich war doch da — hast du mich denn nicht gesehen?“

„Aber, nein! Warst du da? Wo saßest du denn?“

„In Miß Peters ihrer Klasse, wo ich immer sitze. Ich hab‘ dich gesehen.“

„So, wirklich? Na, ‘s ist doch närrisch, daß ich dich nicht gesehen hab‘. Ich wollt‘ dir doch von dem Picknick sagen.“

„O, das ist famos! Wer will eins geben?“

„Meine Mama läßt mich eins geben.“

„Ach, wie reizend! Hoff doch, daß ich auch kommen darf?“

„Na, natürlich, ‘s ist doch mein Picknick. ‘s kann jeder kommen, den ich will — und dich will ich.“

„Das ist mal nett. Wann ist‘s denn?“

„Na — bald. So um die Ferien ‘rum.“

„Das wird mal ‘n Spaß! Hast du alle Knaben und Mädchen eingeladen?“

„Ja, alle, die meine Freunde sind — oder sein wollen,“ und sie schielte wieder so verstohlen nach Tom; aber er erzählte grade Amy Lawrence von dem schrecklichen Sturm auf der Insel und wie der Blitz die große Sykomore traf, „ganz dicht bei mir, keine drei Schritt davon.“

„Du, darf ich auch kommen?“ fragte Gracie Miller.

„Und ich?“ Sally Rogers.

„Und ich auch?“ Susy Harper. „Und Joe?“

„Ja.“

Und so immer weiter mit freudigem Händeklatschen, bis alle in der Gruppe sich ihre Einladung geholt hatten bis auf Tom und Amy. Dann wandte sich Tom kalt ab, immer noch erzählend, und zog Amy mit sich fort. Beckys Lippen zitterten, und die Tränen traten ihr in die Augen. Sie unterdrückte diese verräterischen Zeichen mit forzierter Heiterkeit und fing an zu plappern, aber das Vergnügen am Picknick war zu Ende, und auch aus allem anderen machte sie sich nun nichts mehr. Sobald es ging, lief sie davon, versteckte sich und befreite sich nach der Art ihres Geschlechts durch Tränen von ihrem Kummer. Dann saß sie verdrießlich, mit beleidigter Miene da, bis die Glocke erklang. Mit rachsüchtigem Ausdruck in den Augen sprang sie auf, gab ihren dicken Zöpfen einen tüchtigen Schubs und dachte, sie wisse jetzt schon, was sie zu tun habe.

In der Ecke setzte Tom seine Schäkerei mit Amy mit jubelnder Selbstzufriedenheit fort. Und er brannte darauf, Becky zu finden und sie mit seiner Überlegenheit zu foltern. Schließlich entdeckte er sie, aber das Herz fiel ihm plötzlich in die Hosen. Sie saß auf einem Bänkchen hinterm Schulhaus ganz gemütlich, mit Alfred Temple, in ein Bilderbuch schauend. Und so vertieft waren beide, und ihre Köpfe steckten über dem Buch so dicht zusammen, daß sie gar nichts um sich her wahrzunehmen schienen. Eifersucht rann glühend heiß durch Toms Adern. Er begann, sich selbst zu hassen, weil er die Gelegenheit zur Versöhnung, die ihm Becky geboten, nicht benützt hatte. Er nannte sich selbst einen Narren und gab sich alle Ehrentitel, die ihm gerade einfallen wollten. Er hätte schreien mögen vor Wut. Amy schwatzte ganz vergnügt weiter, indem sie auf und ab gingen, denn ihr Herz war voll Seligkeit, aber Toms Zunge schien gelähmt zu sein. Er hörte gar nicht, was Amy sagte, und so oft sie eine Pause machte, um seine Antwort abzuwarten, konnte er nur irgend eine tölpelhafte Bemerkung hervorstammeln, die möglichst oft ganz falsch angebracht war. Immer wieder suchte er nach der Hinterseite des Schulhauses zu gelangen, um sich an dem verhaßten Anblick zu weiden. Er konnte nicht anders. Und es folterte ihn, zu sehen, wie Becky Thatcher gar nicht zu wissen schien, daß er auch noch im Lande oder überhaupt unter den Lebenden weile. Indessen sah sie ihn sehr wohl; und sie war sich ihres Sieges sehr wohl bewußt und sah ihn mit Wollust ebenso leiden, wie sie vorher gelitten hatte.

Amys Glück fing an, unerträglich zu werden. Tom schützte allerlei Angelegenheiten, die er zu erledigen hatte, vor. Er mußte fort, und die Zeit verrann. Aber vergeblich — das Mädel ließ nicht locker. Tom dachte: O, hol sie der Teufel — soll ich sie nie los werden? Schließlich mußte er aber wirklich seine Angelegenheiten besorgen; sie gab ihm arglos das Versprechen, nach der Schule ihm „auflauern“ zu wollen. Und er rannte davon, sie dafür verwünschend.

„Jeder andere Junge!“ dachte Tom, mit den Zähnen knirschend, „jeder andere im ganzen Dorf, nur nicht dieser Heilige, der denkt, weil er sich fein anzieht, ist er ‘n Vornehmer. Na, wart‘ nur! Hab‘ ich dich am ersten Tag, wo du hier warst, geprügelt, mein Kerlchen, werd‘ ich‘s jetzt ja wohl auch noch können! Wart‘ nur, bis ich dich mal tüchtig beim Kragen nehm‘! Möcht‘s gleich tun am liebsten, und —“

Und mit wahrer Wonne prügelte er ‘nen imaginären Jungen durch — in der Luft herumfuchtelnd, stoßend und puffend.

„Na, wird‘s — wird‘s? Wirst du bald ‚genug‘ sagen? So, nu merk‘s dir für ‘n andermal!“

So war der Kampf bald zu seiner Zufriedenheit beendigt.

Tom rannte mittags heim. Sein Gewissen ertrug‘s nicht, nochmals Amys dankbare Glückseligkeit anzusehen, und seine Eifersucht erlaubte keine andere Zerstreuung. Becky setzte ihr Bilder-Besehen mit Alfred fort, aber als sich Minute an Minute reihte und kein Tom kam, um sich quälen zu lassen, begann ihr Triumphgefühl sich abzukühlen, und sie verlor das Interesse; Unaufmerksamkeit und Geistesabwesenheit folgten, und dann Melancholie. Ein paarmal fing sie mit dem Gehör Fußtritte auf, aber es war jedesmal vergebliches Hoffen; kein Tom kam. Schließlich wurde ihr ganz elend zumute, und sie wünschte, sie hätte die Sache nicht so weit getrieben. Als der arme Alfred bemerkte, daß sie ihm entschlüpfte, nicht wußte, wie, und fortwährend krampfhaft schrie: „O, hier ist ‘n famoses! Schau dies mal an!“ verlor sie schließlich die Geduld und sagte: „Ach was, quäl‘ mich nicht! Hab‘ keine Lust mehr dazu!“ brach in Tränen aus, sprang auf und rannte davon.

Alfred trottete nebenher und wollte sie trösten und beruhigen, aber sie sagte:

„Mach, daß du dich fortscherst und laß mich allein, willst du? Ich mag dich gar nicht!“

So blieb der Junge denn zurück, sich wundernd, was er verbrochen haben könne — denn sie hatte ihm doch versprochen, den ganzen Nachmittag Bilder zu besehen — und sie rannte heulend davon. Dann kehrte Alfred betrübt ins Schulhaus zurück. Er fühlte sich gedemütigt und beleidigt. Er fand aber sehr leicht die Wahrheit heraus — das Mädel hatte ganz einfach ihr Spiel mit ihm getrieben, nur um ihren Zorn an Tom Sawyer auszulassen. Er haßte Tom durchaus nicht weniger, als dieser Gedanke in ihm aufstieg. Nichts wünschte er mehr, als auf irgend eine Weise diesem Jungen was einzubrocken, ohne selbst was zu riskieren. Toms Rechtschreibebuch fiel ihm in die Augen. Die Gelegenheit war günstig. Dankbar öffnete er es bei der Lektion für den Nachmittag und goß Tinte über die Seite. Becky, einen Augenblick hinter ihm durchs Fenster schauend, sah es und drückte sich davon, ohne sich zu verraten.

Sie lief nach Haus, in der Absicht, Tom zu suchen und ihm alles zu sagen. Tom würde ihr dankbar sein und aller Zank wäre damit zu Ende. Bevor sie aber den halben Weg zurückgelegt hatte, war sie anderen Sinnes geworden. Der Gedanke daran, wie sie Tom behandelt hatte, als sie von ihrem Picknick sprach, kam wieder brennend über sie und erfüllte sie mit Scham.

Sie beschloß, ihn in der Sache mit dem beschmutzten Buch ruhig in der Patsche stecken zu lassen und ihn obendrein für immer und ewig zu hassen.

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