Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Die Abenteuer Tom Sawyers
(Mark Twain, 1876, empfohlenes Alter: 12 - 13 Jahre)

20. Kapitel

Tom langte in verdrießlichster Laune zu Hause an, und das erste Wort, das Tante Polly an ihn richtete, zeigte ihm, daß er seinen Kummer an einen sehr wenig versprechenden Ort getragen habe.

„Tom, ich möchte dir doch gleich die Haut über die Ohren ziehn!“

„Tantchen, was hab‘ ich denn getan?“

„Na, du hast genug getan. Da geh‘ ich altes, einfältiges Weib zur Harper hinüber und denk‘, ich will sie an all den Unsinn vom Träumen glauben machen, und siehe da — sie hat von Joe herausbekommen, daß du ‘rüber gekommen bist und hast alles gehört, was wir in der Nacht gesprochen haben. Tom, ich weiß nicht, was aus ‘nem Jungen werden soll, der sich so benimmt. ‘s macht mich so traurig, zu denken, daß du mich ruhig zur Harper gehen ließt und so ‘ne Närrin aus mir machen konntest — ohne ‘n Wort zu sagen.“

Das war nun ‘ne neue Ansicht von der Sache. Seine Gerissenheit von heut morgen war Tom als famoser Witz und äußerst genial erschienen. Jetzt erschien sie ihm höchst mittelmäßig und schäbig. Er ließ den Kopf hängen und wußte in diesem Augenblick nicht, was sagen. Dann sagte er schüchtern:

„Tantchen, ich wollt‘, ich hätt‘s nicht getan — aber ich dachte nicht dran.“

„Ach, Kind, du denkst eben nie. Du denkst an nichts als dein eigenes Pläsier. Daran hast du gedacht, den weiten Weg von Jacksons Insel herüber bei Nacht und Nebel zu machen, um über unsern Kummer zu lachen, und hast dran gedacht, mich mit ‘ner Lüge von dem Traum zu betrügen, aber daran hast du nicht gedacht, Mitleid zu haben und uns vor Sorge zu bewahren.“

„Tantchen, ich weiß jetzt, ‘s war gemein, aber ‘s war ja nicht meine Absicht, gemein zu sein; auf Ehre, das war‘s nicht! Und dann — ich bin nicht rüber gekommen, um über euch zu lachen!“

„Warum also bist du gekommen?“

„‘s war, um dir zu sagen, daß du dir keine Sorge zu machen brauchst, weil wir davongelaufen waren.“

„Tom, Tom, ich wäre die dankbarste alte Frau auf der Welt, wenn ich dran glauben könnte, daß du daran gedacht hast, aber du weißt, du tatst es nicht, und ich weiß es auch, Tom.“

„Aber, gewiß — ganz gewiß, ‘s war so, Tantchen — ich will mich nicht mehr rühren können, wenn‘s nicht so ist!“

„Ach, Tom, lüg‘ nicht — tu‘s nicht! Das macht die Sache nur hundertmal schlimmer.“

„Ich hab‘ aber nicht gelogen, Tante. ‘s ist die Wahrheit! Ich wollt‘ dir den Kummer ersparen — das allein war‘s, was mich nach Hause trieb.“

„Die ganze Welt würd‘ ich drum geben, könnt‘ ich‘s glauben! ‘nen ganzen Haufen Dummheiten würd‘ ich dir dafür vergessen, Tom. ‘s war schlimm genug, daß du fortliefst und so schlecht handeltest. Aber, ‘s ist begreiflich. Aber warum sagtest du mir‘s nicht, Tom?“

„Warum? Na — sieh, Tante, als ihr anfingt, vom Trauergottesdienst zu sprechen, kam mir auf einmal die Idee, ‘rüber zu kommen und mich in der Kirche zu verstecken und da bracht‘ ich‘s nicht fertig, mir das selbst zu verderben. So steckt‘ ich die Rinde wieder in die Tasche und hielt den Mund.“

„Was für ‘ne Rinde?“

„Die Rinde, worauf ich geschrieben hatte, daß wir Piraten geworden seien. Jetzt wollt‘ ich nur, du wärst aufgewacht, als ich dich küßte — auf Ehre, ich wollt‘s!“

Das strenge Gesicht Tante Pollys hellte sich auf und Zärtlichkeit zitterte in ihrer Stimme: „Hast du mich geküsst, Tom?“

„Freilich hab‘ ich‘s getan.“

„Weißt du‘s gewiß, daß du‘s tatst?“

„Aber ja, ich tat‘s, Tantchen — ganz gewiß!“

„Warum küßtest du mich, Tom?“

„Weil ich dich lieb hab‘, und du im Schlafen seufztest und ich so traurig war.“

Die Worte klangen wahr. Die alte Dame konnte das Zittern in ihrer Stimme nicht verbergen, als sie sagte: „Küß mich noch mal, Tom! — Und jetzt fort mit dir zur Schule, und ärgere mich nicht wieder.“

Sobald er fort war, rannte sie zum Wandschrank und riß die Ruine der Jacke heraus, in der Tom unter die Piraten gegangen war. Dann hielt sie wieder inne und sagte zu sich: „Nein, ich tu‘s nicht. Armer Junge — ich denke, du hast‘s gelogen — aber ‘s ist ‘ne gesegnete, gesegnete Lüge, ‘s ist was Treuherziges drin. Ich hoffe, der Herr — ich weiß, der Herr wird ihm vergeben, denn ‘s war doch gutherzig von ihm, das zu sagen. Aber, ich will gar nicht wissen, daß es ‘ne Lüge ist. Ich will nicht nachsehn.“

Sie tat die Jacke wieder fort und stand eine Minute unentschlossen. Zum zweitenmal streckte sie die Hand aus nach dem Kleidungsstück, und zum zweitenmal zog sie sie zurück. Und nochmals griff sie danach, und diesmal ermutigte sie sich selbst mit dem Gedanken: „‘s ist ‘ne gute Lüge — ‘s ist ‘ne gute Lüge — ich will mich nicht dadurch kränken lassen.“ So griff sie in die Tasche der Jacke. Einen Moment später las sie unter Tränen Toms Schriftstück und schluchzte: „Jetzt könnt‘ ich dem Jungen vergeben, und wenn er ‘ne Million dummer Streiche gemacht hätte.“

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