Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Die Abenteuer Tom Sawyers
(Mark Twain, 1876, empfohlenes Alter: 12 - 13 Jahre)

24. Kapitel

Schließlich wurde die brütende Langeweile ein bißchen aufgestört und erfrischt. Der Mordprozeß kam vor Gericht. Er wurde sofort der alleinige Gegenstand des Gesprächs. Tom konnte es kaum aushalten. Jede Erwähnung des Mörders jagte ihm einen Schauer durch die Glieder, denn sein bedrücktes Gewissen und seine Furcht machten ihm weis, daß alle diese Bemerkungen „Fühler“ sein sollten und auf ihn berechnet. Zwar wußte er durchaus nicht, wie ein Verdacht, etwas über den Mord zu wissen, sollte auf ihn fallen können, trotzdem aber konnte er sich inmitten all des Geklatsches nicht behaglich fühlen. Kalte Schauer schüttelten ihn beständig.

Er schleppte Huck an ein einsames Plätzchen, um sich mit ihm mal darüber auszusprechen. Es würde für ‘ne Weile doch eine Erleichterung sein, seiner Zunge mal freien Lauf gelassen zu haben, die Last seines Kummers mit einem Leidensgefährten zu teilen. Vor allem aber wollte er sich versichern, daß Huck reinen Mund gehalten habe.

„Huck, hast du jemals darüber gesprochen?“

„Worüber?“

„Na — du weißt schon!“

„Ach so — na, gewiß nicht!“

„Kein Wort?“

„Zum Teufel, auch nicht ‘s kleinste Wort! Warum fragst du?“

„Na, ich hatt‘ halt Angst!“

„Weißt du, Tom Sawyer, wir würden keine zwei Tage mehr haben, wenn das raus käm‘! Du weißt doch?“

Tom wurde behaglicher zumute. Nach einer Pause sagte er: „Du, Huck, ‘s wird dich niemand zwingen können, was zu verraten, he?“

„Mich zwingen? Na, wenn ich wollt‘, daß der Halbindianer-Teufel mir den Hals umdrehte, dann könnten sie mich zwingen, zu schwatzen.“

„Na, ‘s ist schon gut. Denk auch, daß wir sicher sind, so lang‘ wir reinen Mund halten. Aber laß uns nochmal schwören. ‘s ist sicherer!“

„Meinetwegen.“

So schwuren sie nochmals die schrecklichsten Eide.

„Was wird denn eigentlich geschwatzt, Huck? Ich hab‘ so viel durch‘nander gehört!“

„Schwatzen? Na, ‘s ist immer Muff Potter, Muff Potter, Muff Potter. Jedesmal gerat‘ ich ordentlich in Schweiß, daß ich gleich davonlaufen möcht‘!“

„‘s ist grad so wie bei mir. Ich denk‘ wohl, daß er ‘n Gauner ist. Hast du zuweilen Mitleid mit ihm?“

„Fast immer — fast immer. Er taugt ja nicht viel; aber er hat doch nie was getan, um jemand zu verletzen. Er stiehlt wohl zuweilen Fische, um Geld für Branntwein zu kriegen — und treibt sich beständig herum; aber, Herr Gott, das tun wir doch alle — oder wenigstens die meisten — auch die Prediger und solche Leute. Aber er ist doch ‘n guter Kerl — er gab mir mal ‘n halben Fisch, wo‘s doch nicht genug war für zwei, und oft genug war er freundlich gegen mich und half mir, wenn ich in ‘ner Patsche saß.“

„Ja, und mir hat er Drachen gemacht, Huck, und Angelhaken. — Wollt, wir könnten ihm raushelfen —“

„Lieber Gott, Tom, wir können ihm nicht ‘raushelfen. Und dann — ‘s wär‘ auch gar nicht gut; sie kriegten ihn doch wieder.“

„Ja — das täten sie. Aber ich kann‘s nicht hören, daß sie auf ihn schimpfen wie auf ‘nen Teufel, wo er‘s doch gar nicht getan hat.“

„Ich auch, Tom! Gott, ich hört‘, wie einer sagte, er ist der blutgierigste Lump im ganzen Land, und sie wunderten sich nur, daß er noch nicht aufgeknüpft ist.“

„Ja, das sagen sie immer. Ich hab‘ gehört, sie wollten ihn lynchen, wenn er freikäm‘.“

„Und das täten sie auch.“

Die Jungen schwatzten noch lange, aber es brachte ihnen wenig Befreiung. Als das Zwielicht anbrach, fanden sie sich auf einmal in der Nachbarschaft des kleinen, einsamen Gebäudes, vielleicht in der unbestimmten Hoffnung, es könne irgend was geschehen, wodurch ihre Kümmernisse gehoben würden. Aber nichts geschah, weder Engel noch gute Geister schienen sich mit diesem unglücklichen Gefangenen beschäftigen zu wollen.

Die Jungens taten, was sie schon oft vorher getan hatten — gingen zu dem Gitterfenster und steckten Potter ein bißchen Tabak und Zündhölzer zu. Er lag auf dem Fußboden — Wächter waren nicht da.

Seine Dankbarkeit für ihre kleinen Gaben hatte bisher immer ihr Gewissen entlastet — jetzt wurde es nur noch schwerer. Sie fühlten sich im höchsten Grade gemein und treulos, als Potter sagte: „Ihr seid doch immer gut gegen mich gewesen, Jungs, besser als sonst jemand im Dorf. Und ich werd‘s nicht vergessen, werd‘s nicht! Oft denk‘ ich, hab‘ allen Jungen Drachen gemacht und alles, und ihnen gute Fischplätze gezeigt, und ihnen geholfen, wo ich konnt‘, und nu‘ vergessen sie alle den alten Muff, wo er so in der Patsche sitzt, nur der Tom tut‘s nicht, und der Huck tut‘s nicht, die vergessen ihn nicht, sagt‘ ich, und ich werd‘ sie nicht vergessen! Na, Jungs, ich hab‘ was Schreckliches getan — betrunken und verrückt muß ich gewesen sein; ‘s ist die einzige Art, wie ich‘s mir denken kann, und jetzt soll ich dafür baumeln, und ‘s ist recht so. Recht und ‘s beste auch, glaub‘ ich, hoff‘ wenigstens. Na, wollen nicht davon sprechen. Möcht‘ euch ‘s Herz nicht schwer machen. Aber wollt euch doch sagen: Trinkt nicht, wenn ihr groß seid, dann kommt ihr nie hierher. Kommt mal näher ran — so, ‘s ist doch schon was, so ‘n paar gute Gesichter zu sehen — gute, freundliche Gesichter. Steigt mal einer auf den anderen und gebt mal eure Patschen her. Kommt leichter durch die Stangen, meine Faust ist zu groß. Kleine Hände — und zart — aber haben Muff Potter ‘ne Menge geholfen und würden noch mehr tun, wenn sie könnten.“

Tom schlich niedergeschlagen nach Hause, und seine Träume waren schrecklich. Am nächsten und übernächsten Tage lungerte er um das Gerichtsgebäude herum, von unwiderstehlichem Verlangen angetrieben, hineinzugehen, und doch sich selbst zwingend, es nicht zu tun. Huck hatte dieselben Versuchungen. Sie gingen sich geflissentlich aus dem Wege. Jeder ging von Zeit zu Zeit mal fort, aber derselbe verzweifelte Zauber trieb ihn immer sehr bald wieder hin. Tom hielt die Ohren offen, wenn irgend ein Müßiggänger herauskam, hörte aber immer nur betrübende Neuigkeiten. Die Schlinge zog sich immer und immer fester zusammen um den armen Potter. Am Abend des zweiten Tages war das Dorfgespräch, daß des Indianer-Joe Erscheinen feststehe, und daß über den zu erwartenden Spruch der Geschworenen nicht der geringste Zweifel entstehe.

Tom war diesen Abend lange aus und gelangte durchs Fenster ins Bett. Er befand sich in schrecklich aufgeregtem Zustande. Es dauerte Stunden, bis er einschlafen konnte.

Am nächsten Morgen strömte das ganze Dorf zum Gerichtsgebäude, denn es würde ein großer Tag sein. Beide Geschlechter waren zu dem aufregenden Verhör erschienen. Nach langer Zeit traten die Geschworenen ein und begaben sich auf ihre Plätze. Kurz danach wurde Muff Potter, blaß und hohläugig, verschüchtert und hoffnungslos, mit Ketten beladen, hereingebracht und setzte sich so, daß all die neugierigen Augen ihn treffen mußten; nicht weniger wurde der Indianer-Joe beobachtet, der gleichgültig, wie immer, dasaß. Noch eine Pause, und dann kam der Richter, und der Sheriff verkündete den Beginn der Sitzung. Es folgte das gewöhnliche Geflüster zwischen den Gerichtspersonen und Papierknistern. Diese Einzelheiten und Umständlichkeiten bewirkten eine erwartungsvolle Stimmung, die ebenso aufregend wie lähmend war.

Jetzt wurde jener Bürger aufgerufen, welcher beschwor, daß er Muff Potter in sehr früher Stunde am Morgen des Mordes getroffen hatte, wie er sich in einem Graben wusch, und daß er sofort davongelaufen sei. Nach einigen weiteren Fragen sagte der Staatsanwalt: „Der Herr Verteidiger hat das Wort.“ Der Gefangene erhob für einen Augenblick die Augen, schlug sie aber sofort nieder, als sein Verteidiger sagte: „Ich verzichte.“

Der nächste Zeuge erzählte die Auffindung des Messers am Tatorte. Der Staatsanwalt sagte abermals: „Der Herr Verteidiger hat das Wort.“

„Ich verzichte,“ entgegnete auch diesmal der Verteidiger.

Ein dritter Zeuge beschwor, daß er das Messer oftmals in Muff Potters Besitz gesehen habe.

„Der Herr Verteidiger hat das Wort.“

Potters Verteidiger dankte wiederum.

Die Gesichter der Zuhörer begannen Unwillen zu zeigen. Wollte dieser Verteidiger das Leben seines Klienten ohne jeden Versuch zu seiner Rettung preisgeben?

Mehrere Zeugen berichteten über Potters verdächtiges Benehmen, als er an den Mordplatz geführt wurde. Sie konnten ebenfalls ohne Gegenverhör den Platz verlassen.

Alle Einzelheiten der gravierenden Vorkommnisse an jenem Morgen, dessen sich alle Anwesenden so gut erinnerten, waren von glaubwürdigen Zeugen bestätigt, und nicht einer war durch Potters Verteidiger einem Gegenverhör unterworfen worden. Die Verblüffung und Unzufriedenheit des Hauses machte sich in Murren bemerklich, was eine Zurechtweisung seitens des Vorsitzenden zur Folge hatte.

Jetzt begann der Staatsanwalt: „Durch den Eid von Bürgern, deren einfaches Wort schon über jeden Zweifel erhaben ist, sehen wir das schreckliche Verbrechen dem unglücklichen Gefangenen dort zur Last gelegt. Die Sachlage ist über jeden Zweifel erhaben.“

Ein Stöhnen entrang sich dem armen Potter, er bedeckte das Gesicht mit den Händen, während sein Körper gleichsam zusammenschrumpfte. Ein peinliches Stillschweigen hatte sich über den Saal gelegt. Alle waren bewegt, und manche Frau verriet ihre Bewegung durch Tränen.

Der Verteidiger erhob sich und sagte: „Euer Ehren! Zu Beginn der gegenwärtigen Verhandlung gaben wir unsere Absicht kund, zu zeigen, daß unser Klient diese schreckliche Tat beging, während er unter dem Einflusse eines blinden, geistesverwirrenden Rausches infolge übermäßigen Trunkes stand. Wir haben unsere Ansicht geändert. Wir können auf diesen Einwand verzichten!“ (Dann zum Gerichtsdiener): „Tom Sawyer!“

In allen Gesichtern malte sich unverhohlenes Erstaunen, Potter nicht ausgenommen. Jedes Auge heftete sich mit verwundertem Interesse auf Tom, als er aufstand und sich auf seinen Platz in der Zeugenloge setzte. Der Junge sah verstört genug aus, er war auch mächtig verschüchtert. Die Eidesformel war gesprochen.

„Thomas Sawyer, wo wart Ihr am 7. Juni um Mitternacht?“

Tom schielte auf des Indianer-Joe eisernes Gesicht, und die Zunge versagte ihm den Dienst. Alle Zuhörer warteten atemlos, aber die Worte kamen nicht heraus. Nach ein paar Augenblicken indessen sammelte der Junge ein bißchen Mut und versuchte genug davon in seine Stimmung zu legen, um sich einem Teil des Saales hörbar zu machen.

„Auf dem Kirchhof.“

„Bitte, etwas lauter. Fürchtet Euch nicht. Ihr wart —“

„Auf dem Kirchhof.“

Ein verächtliches Lächeln flog über des Indianer-Joe Gesicht.

„Wart Ihr vielleicht in der Nähe von William Horses Grab?“

„Ja, Herr!“

„Noch ein bißchen lauter. Wie nahe wart Ihr?“

„So nahe, wie jetzt zu Ihnen.“

„Wart Ihr versteckt oder nicht?“

„Ich war versteckt.“

„Wo?“

„Unter den Ulmen, die am Kopfende des Grabes stehen.“

Der Indianer-Joe fuhr unmerklich zusammen.

„Wart Ihr in Begleitung?“

„Ja, Herr. Ich war da mit —“

„Halt — einen Augenblick. Nennt den Namen Eures Gefährten noch nicht. Wir wollen ihn zur rechten Zeit aufrufen. Hattet Ihr irgend etwas mit?“

Tom zögerte und schaute verwirrt um sich.

„Na, sprich — mein Junge! Nicht zaghaft! Die Wahrheit ist immer achtungswert. Was hattest du mit?“

„Nur — nur — ‘ne tote Katze!“

Ein schwaches Kichern entstand, wurde aber sofort vom Gerichtshof unterdrückt.

„Wir werden das Skelett der Katze vorlegen. Jetzt, mein Junge, sag‘ uns, was sich zutrug — sag‘s ganz auf deine Weise — vergiß nichts und fürchte dich nicht.“

Tom begann — zuerst stammelnd, aber als er warm wurde, flossen seine Worte leichter und immer leichter; in kurzem verstummte jeder Laut außer seiner Stimme; jedes Auge heftete sich auf ihn; mit geöffneten Lippen und angehaltenem Atem hingen die Zuhörer an seinen Worten, vollkommen von der Spannung der Erzählung beherrscht. Die Erregung erreichte den höchsten Grad, als er sagte: „Und wie der Doktor mit dem Brett haute und Potter fiel, da sprang der Indianer-Joe mit dem Messer —“

Krach! — Schnell wie der Blitz sprang der Indianer-Joe zum Fenster durch alle Zuschauer hindurch und war im Nu verschwunden!

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