Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Die Abenteuer Tom Sawyers
(Mark Twain, 1876, empfohlenes Alter: 12 - 13 Jahre)

5. Kapitel

<p>Ungefähr um halb zehn Uhr begann die kleine Glocke der Kirche zu läuten&comma; und sogleich begann das Volk zur Morgenpredigt herbeizuströmen&period; Die Sonntagsschulkinder zerstreuten sich durchs ganze Haus und nahmen Plätze bei ihren Eltern ein&comma; um unter Aufsicht zu sein&period; Tante Polly kam&comma; und Tom&comma; Sid und Mary saßen bei ihr&period; Tom wurde zunächst der Kanzel plaziert&comma; um so weit wie möglich vom offenen Fenster und dem Sommer draußen entfernt zu sein&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Das Volk füllte die Kirche&period; Der alte&comma; gichtbrüchige Postmeister&comma; der bessere Tage gesehen hatte&comma; der Mayor und seine Frau — denn es gab einen Mayor&comma; neben vielen anderen unnützen Dingen&comma; — der Ortsrichter&comma; die Witwe Douglas&comma; zart&comma; klein und lebhaft&comma; eine edle&comma; gutherzige Seele und immer obenauf &lpar;ihr Haus war das einzige steinerne im Dorf&comma; und das gastfreieste und bei Festlichkeiten verschwenderischste&comma; das St&period; Petersburg aufweisen konnte&rpar;&semi; Lawyer Riverson&semi; dann die Schönheit des Dorfes&comma; gefolgt von einem Haufen elegant gekleideter&comma; mit allerhand Firlefanz behangener junger Herzensbrecher&semi; dann all die jungen Ladendiener des Dorfes&comma; alle gleichzeitig&comma; denn sie hatten im Vestibül gestanden&comma; Süßholz raspelnd — eine öltriefende&comma; einfältige Schutztruppe — bis das letzte Mädchen Spießruten gelaufen war&period; Und zuletzt von allen kam der Musterknabe&comma; Willie Mufferson&comma; seine Mutter so sorgsam an der Hand führend&comma; als wäre sie aus Glas&period; Er brachte seine Mutter stets zur Kirche und war der Liebling aller alten Damen&period; Das junge Volk haßte ihn — er war <em>zu<&sol;em> gut&semi; und dann war er ihnen gar zu oft als Muster vorgehalten worden&period; Sein weißes Taschentuch hing ihm aus der Tasche — so war es damals am Sonntag Mode&period; Tom hatte kein Taschentuch und verachtete jeden Jungen&comma; der eins hatte&period; Da die Versammlung jetzt so ziemlich vollzählig war&comma; läutete die Glocke nochmals&comma; zur Mahnung für Nachzügler und Müßige&comma; und dann senkte sich eine große Stille auf die Kirche&comma; nur unterbrochen durch das Kichern und Wispern auf dem Chor&period; Der Chor kicherte und wisperte immer und überall während des ganzen Gottesdienstes&period; Es hat einmal einen Kirchenchor gegeben&comma; der <em>nicht<&sol;em> schlecht erzogen war&comma; aber ich weiß nicht mehr wo&period; Es ist schon eine ganze Reihe von Jahren her&comma; und ich kann mich wahrhaftig nicht mehr an die Einzelheiten erinnern — aber ich glaube&comma; es war in einem fremden Lande&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Der Geistliche gab das Lied an und las es nach einer ganz besonderen&comma; in dieser Gegend sehr beliebten Manier in singendem Ton herunter&period; Seine Stimme begann mit schwachem Flüstern&comma; wuchs beständig an&comma; bis sie einen Punkt erreichte&comma; wo sie unter Herausstoßung des letzten Wortes plötzlich abbrach und wie ein Springbrunnen herunterplumpste&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Er galt als wundervoller Vorleser&period; Bei allen kirchlichen Versammlungen wurde er aufgefordert&comma; Verse vorzutragen&comma; und wenn er damit fertig war&comma; hoben die Ladies ihre Hände und ließen sie wieder in den Schoß fallen und verdrehten die Augen und schüttelten die Köpfe&comma; als wollten sie sagen&colon; Worte können hier nichts sagen&comma; es ist <em>zu<&sol;em> wundervoll&comma; zu wundervoll für diese Erde&excl;<&sol;p>&NewLine;<p>Nach dem Liede begann der Reverend Mr&period; Sprague eine Art Tagesbericht&comma; indem er sich über Nachrichten von Meetings und Versammlungen und tausenderlei Dinge verbreitete&comma; bis alle Weltlust aus dem heiligen Hause gewichen zu sein schien — eine seltsame Mode&comma; die überall in Amerika zu finden ist&comma; sogar in den großen Städten und bis in unser Zeitalter des Zeitungs-Überflusses hinein&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Und jetzt kam die Predigt&period; Es war eine gute&comma; leutselige Predigt und ging bis ins einzelne&period; Sie beschäftigte sich mit der Kirche und mit den Kindern der Kirche&semi; mit den anderen Kirchen des Dorfes&semi; mit dem Dorfe selbst&semi; mit dem Lande&semi; mit dem Staat&semi; mit den Behörden der einzelnen Staaten&semi; mit den Vereinigten Staaten&semi; mit dem Kongreß&semi; mit dem Präsidenten&semi; mit den Staatsdienern&semi; mit den armen&comma; sturmumtosten Seefahrern&semi; mit den unter dem Joch ihrer Monarchen seufzenden Millionen Europas und des Orients&semi; mit den Glücklichen und Reichen&comma; die nicht Augen haben&comma; zu sehen und Ohren&comma; zu hören&semi; mit den armen Seelen auf fernen Inseln&semi; und schloß mit der Bitte&comma; daß seine Worte auf guten Boden fallen und dereinst hundertfältige Frucht tragen möchten&period; Amen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Darauf folgte Kleiderrascheln&comma; und die Versammlung setzte sich&period; Der Knabe&comma; dessen Geschichte dieses Buch enthält&comma; hatte keine Freude an dieser Predigt&comma; er hörte sie einfach an — und vielleicht auch das nicht&period; Doch merkte er sich einzelne Details daraus&comma; ganz unbewußt&comma; denn&comma; wie gesagt&comma; er achtete kaum darauf&comma; aber er kannte den Sermon des Geistlichen schon längst und bemerkte es sofort&comma; wenn mal irgend ein neuer Passus eingeschoben war&comma; und das empfand er dann unangenehm&semi; er hielt Beisätze und Abweichungen von dem Althergebrachten für unnobel und unrecht&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Während der Predigt setzt sich eine Fliege auf den Sitz des Kirchenstuhls vor ihm und marterte ihn durch das fortwährende Aneinanderreiben ihrer Beine&period; Dann umarmte sie ihren eigenen Kopf und drückte ihn so stark&comma; daß die Glieder am Kopfe angewachsen zu sein schienen&comma; fesselte ihre Flügel mit den Hinterbeinen und preßte sie an den Körper&comma; wie einen Überrock und verrichtete ihre ganze Toilette mit einer Ruhe&comma; als fühle sie sich vollkommen sicher&period; Und so war es auch&period; Denn als sich Toms Hand ihr näherte&comma; um sie zu erwischen&comma; blieb sie ruhig sitzen&period; — Tom dachte&comma; wenn sich ihm diese Beschäftigung bei Beginn der Predigt geboten hätte&comma; würde es ein angenehmer Zeitvertreib für seinen Geist gewesen sein&period; — Aber beim Schlußsatz begann seine Hand sich zu krümmen und sich vorwärts zu bewegen&semi; und im Augenblick&comma; da das „Amen&OpenCurlyDoubleQuote; gesprochen wurde&comma; war die Fliege eine Kriegsgefangene&period; Seine Tante sah es und veranlaßte ihre Befreiung&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Der Geistliche gab seinen Text an und behandelte den ersten Teil mit so gründlicher Langweile&comma; daß manch ein Kopf zu nicken begann&semi; ein anderer Teil wieder war so voll Feuer und Schwefel und setzte der Versammlung so zu&comma; daß sie ganz geknickt und so klein und nichtig erschien&comma; daß es kaum der Erwähnung wert ist&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Tom zählte die Seiten der Predigt&comma; und nach dem Gottesdienst wußte er stets ganz genau&comma; wie viel es gewesen waren&comma; aber über die Predigt selbst wußte er selten etwas anzugeben&period; Diesmal indessen gab er doch für eine kleine Weile Obacht&period; Der Geistliche gab eine lange und rührende Schilderung vom Wiedersehen irdischer Schafe im Paradiese&comma; wenn Löwe und Lamm beieinander liegen würden und ein kleines Kind sie am Gängelbande führen könnte&period; Aber Pathos&comma; Eifer&comma; Moral — alles war verloren an dem kleinen Burschen&semi; er dachte bloß an die Herrlichkeit dieses Heldendarstellers unter den unsichtbaren Wesen&semi; und er stellte sich vor&comma; wie schön es sein müsse&comma; dieses Kind darzustellen — wenn der Löwe ein zahmer Löwe sein würde&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Bei der Schlußbetrachtung geriet er dann wieder in tiefe Leiden&period; Er erinnerte sich plötzlich eines Schatzes&comma; den er besaß und zog ihn hervor&period; Es war ein großes&comma; schwarzes Ungeheuer&comma; mit schrecklichen Kinnbacken — Kneifzangen&comma; sagte Tom&period; Es befand sich in einer Zündholzschachtel&period; Das erste&comma; was das Tier tat&comma; war&comma; ihn in den Finger zu beißen&period; Ein tüchtiger Nasenstüber folgte&comma; und das Tier flog in einen Kirchenstuhl&comma; wo es liegen blieb — der verwundete Finger wanderte in Toms Mund&period; Das Tier lag auf dem Rücken&comma; hilflos mit den Beinen strampelnd&comma; unfähig&comma; aufzustehen&period; Tom sah es und griff danach&comma; aber es befand sich außerhalb seines Bereiches&period; Irgend jemand wollte sich auf den Stuhl niederlassen&comma; sah das Tier ebenfalls und warf es kurzerhand herunter&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Plötzlich kam ein herrenloser Pudel des Weges&comma; trübselig&comma; faul infolge der Sommerhitze&comma; gelangweilt durch die Gefangenschaft&comma; und sich nach einem Abenteuer umsehend&period; Er entdeckte das Tier&period; Sein Schwanz richtete sich empor und begann zu wedeln&period; Er betrachtete seinen Fund&comma; ging um ihn herum&comma; beschnüffelte ihn aus sicherer Entfernung&comma; ging wieder im Kreis herum&comma; kam näher und beschnüffelte ihn dreister&comma; hob dann die Lefzen&comma; schnappte nach ihm&comma; ohne ihn zu fassen&comma; wiederholte diese Prozedur mehrmals&comma; begann zu spielen&comma; legte sich&comma; das Tier zwischen den Pfoten&comma; und setzte seine Untersuchungen fort&comma; wurde bald müde&comma; gleichgültig und vergaß schließlich sein Spielzeug&period; Sein Kopf sank herab&comma; und sein Kinn drückte immer mehr auf den Feind&comma; welcher ihn plötzlich gepackt hielt&period; Es ertönte ein scharfes Geheul&comma; des Pudels Kopf schnellte in die Höhe&comma; und das Tier flog ein paar Meter weit fort und lag nun wieder hilflos auf dem Rücken&period; Die nächstsitzenden Zuschauer stießen sich mit geheimem Vergnügen an&comma; einzelne Gesichter verschwanden hinter Fächern und Taschentüchern&comma; und Tom war ganz glücklich&period; Der Hund machte ein böses Gesicht und war wohl auch so gestimmt&period; Er war im Herzen gekränkt und brütete Rache&period; So ging er wieder zu dem Tier und machte einen neuen&comma; heftigen Angriff&comma; indem er von verschiedenen Punkten eines Kreises aus&comma; dessen Mittelpunkt sein Opfer bildete&comma; auf dieses zusprang&comma; mit den Vorderpfoten dicht vor seinen Augen fuchtelte&comma; mit den Zähnen nach ihm schnappte und den Kopf dicht vor ihm schüttelte&comma; daß die Ohren flogen&period; Nach einer Weile wurde es ihm wieder langweilig&period; Er begann ein Spiel mit einer Fliege&comma; aber das bot keinen rechten Ersatz&period; Darauf lief er ein paarmal im Kreis herum&comma; die Schnauze dicht an der Erde und bekam auch das satt&period; Er gähnte&comma; seufzte&comma; vergaß das Tier völlig und setzte sich gerade darauf&period; Wieder ein durchdringender Schrei&comma; und der Pudel sprang hilfesuchend auf einen Stuhl&period; Das Geschrei dauerte fort&comma; und der Pudel tanzte dicht vor dem Altar herum&comma; lief einen Gang hinunter&comma; sprang an der Tür in die Höhe und flehte um menschliche Hilfe&period; Seine Angst nahm fortwährend zu&comma; bis er plötzlich wie ein behaarter Komet in <em>seinem<&sol;em> Weltenraum herumfuhr&period; Schließlich verließ der zum Wahnsinn getriebene Dulder seine Bahn und sprang auf den Schoß seines Herrn&period; Dieser warf ihn aus dem Fenster&comma; und die Stimme des unglücklichen Geschöpfes entfernte sich und erstarb in der Ferne&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Inzwischen saß die ganze Versammlung&comma; rot vor unterdrücktem Lachen&comma; und die Predigt hatte völlig aufgehört&period; Jetzt wurde sie wieder aufgenommen&comma; aber sie ging stockend und abgerissen vor sich&comma; und mit der Aufmerksamkeit war es nichts mehr&period; Denn selbst die heiligste Andacht war beeinflußt durch schlecht unterdrückte höchst unheilige Heiterkeit&comma; als wenn der arme Geistliche irgend einen schlechten Witz gemacht hätte&period; Es bedeutete eine wahre Erleichterung für die Versammlung&comma; als der Gottesdienst zu Ende und der Segen gesprochen war&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Tom schlenderte höchst gemütlich heim und dachte bei sich&comma; so ein Gottesdienst wäre doch ganz nett&comma; wenn ein bißchen Abwechselung dabei sei&period; Nur <em>ein<&sol;em> Gedanke quälte ihn&semi; er hatte allerdings die Absicht gehabt&comma; den Hund mit seiner „Beißzange&OpenCurlyDoubleQuote; spielen zu lassen&comma; aber er hätte sie nicht fortschleppen sollen&period;<&sol;p>

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