Kinderbücher
Wunderbare Geschichten für Kinder zum Lesen & Vorlesen.

Die Abenteuer Tom Sawyers
(Mark Twain, 1876, empfohlenes Alter: 12 - 13 Jahre)

21. Kapitel

<p>Es war etwas in Tante Pollys Art&comma; als sie Tom küßte&comma; das seinen betrübten Geist wieder aufrichtete und ihn wieder leichtherzig und glücklich machte&period; Er rannte zur Schule und hatte das Glück&comma; auf Becky Thatcher zu stoßen&period; Seine Stimmung wechselte beständig&period; Ohne einen Augenblick der Überlegung rannte er auf sie zu und sagte&colon; „Hab&OpenCurlyQuote; mich heut morgen ganz gemein benommen&comma; Becky&comma; und jetzt bin ich so traurig drüber&period; Ich will nie&comma; nie wieder so was tun&comma; so lang&OpenCurlyQuote; ich leb&OpenCurlyQuote; — willst du jetzt wieder gut sein&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Das Mädchen blieb stehen und schaute ihn verächtlich an&colon; „Ich würd&OpenCurlyQuote; dir dankbar sein&comma; wenn du dich um dich selbst kümmern würdst&comma; <em>Herr<&sol;em> Thomas Sawyer&excl; Ich werd&OpenCurlyQuote; <em>nie<&sol;em> wieder mit dir sprechen&period;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Sie hob stolz den Kopf und spazierte davon&period; Tom war so verblüfft&comma; daß er nicht mal Geistesgegenwart genug hatte&comma; zu sagen&colon; „Wie&OpenCurlyQuote;s beliebt&comma; Jungfer Naseweis&comma;&OpenCurlyDoubleQuote; bis der rechte Augenblick vorüber war&period; So sagte er gar nichts&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Aber er war nichtsdestoweniger in heller Wut&period; Er rannte auf den Schulhof&comma; wünschend&comma; sie wär &OpenCurlyQuote;n Junge&comma; und sich vorstellend&comma; wie er sie durchprügeln wollte&comma; <em>wenn<&sol;em> sie einer wär&period; Er suchte ihr zu begegnen&comma; und als sie vorbeikam&comma; schleuderte er ihr eine bissige Bemerkung zu&period; Sie gab sie ihm zurück&comma; und der traurige Bruch war vollständig&period; Becky glaubte&comma; in ihrem Haß kaum abwarten zu können&comma; bis die Schule begönne&comma; so ungeduldig war sie&comma; Tom seine Prügel für das besudelte Buch bekommen zu sehen&period; Wenn sie noch ein bißchen gezweifelt hatte&comma; ob sie Alfred Temple anzeigen solle&comma; hatte Toms beleidigendes Benehmen diese Zweifel endgültig beseitigt&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Armes Mädchen&comma; sie wußte nicht&comma; wie nahe sie selbst solchem Unglück sei&period; Der Lehrer&comma; Mr&period; Dobbins&comma; hegte trotz seiner mittleren Jahre noch unbefriedigten Ehrgeiz&period; Sein Lieblingswunsch war gewesen&comma; Doktor zu werden&comma; aber Armut hatte entschieden&comma; daß er nichts weiter werden solle als ein Dorfschulmeister&period; Täglich zog er ein geheimnisvolles Buch aus seinem Pult und vertiefte sich darin&comma; wenn gerade keine der Klassen aufsagte&period; Er hielt das Buch unter sicherem Verschluß&period; Nicht ein Bengel war in der Schule&comma; der nicht darauf gebrannt hätte&comma; einen Blick hineinzuwerfen&comma; aber es bot sich niemals eine Gelegenheit&period; Alle Buben und Mädel hatten ihre eigene Ansicht über den Inhalt des Buches&semi; aber nicht zwei Ansichten stimmten überein&comma; und es gab kein Mittel&comma; diese Streitfrage zu entscheiden&period; Jetzt&comma; als Becky am Pult vorbeikam&comma; das nahe der Tür stand&comma; sah sie&comma; daß der Schlüssel steckte&period; &OpenCurlyQuote;s war ein wundervoller Moment&period; Sie schaute um sich&comma; sah sich allein und im nächsten Augenblick hielt sie das Buch in der Hand&period; Das Titelblatt — „Anatomie von Professor Irgendwer&OpenCurlyDoubleQuote; — brachte ihr keine Aufklärung&period; So begann sie die Blätter umzuwenden&period; Plötzlich stieß sie auf eine hübsche gestochene und übermalte Abbildung — eine menschliche Figur&period; In dem Augenblick fiel ein Schatten aufs Papier&comma; und Tom kam ins Zimmer gerannt und gewahrte ein Eckchen der Abbildung&period; Becky hielt das Buch rasch beiseite&comma; wollte es zumachen und hatte das Unglück&comma; das Bild bis fast zur Mitte durchzureißen&period; Sie warf das Buch ins Pult&comma; drehte den Schlüssel um und rannte davon&comma; vor Wut und Schrecken schreiend&colon; „Tom Sawyer&comma; du bist doch so gemein wie nur möglich&comma; jemand so zu erschrecken und zu sehen&comma; was man da grad hat&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„Aber&comma; wie konnt&OpenCurlyQuote; ich denn wissen&comma; <em>daß<&sol;em> du da was besehen hast&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>„Du solltest dich vor dir selbst schämen&comma; Tom Sawyer&excl; Du weißt wohl&comma; daß du mir aufgepaßt hast&excl; Ach Gott&comma; was soll ich tun&comma; was soll ich tun&excl; Ich werd&OpenCurlyQuote; geprügelt&comma; und ich bin noch <em>nie — mals<&sol;em> geprügelt worden in der Schule —&OpenCurlyDoubleQuote; Dann stampfte sie mit ihrem kleinen Fuß und heulte&colon; „Sei so gemein&comma; wenn du willst&excl; Ich weiß auch was&comma; was <em>du<&sol;em> kriegst&excl; Wart nur&comma; wirst&OpenCurlyQuote;s schon sehn&excl; Scheußlich&excl;&OpenCurlyDoubleQuote; Und sie rannte aus der Tür&comma; unter einer neuen Flut von Tränen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Tom stand still&comma; ganz erstaunt über diesen Ausbruch&period; Dann sagte er zu sich&colon; „Was für &OpenCurlyQuote;n sonderbares Stück von &OpenCurlyQuote;ner Närrin so &OpenCurlyQuote;n Mädel ist&period; Niemals geprügelt in der Schule&excl; Gott&comma; was sind Prügel&excl; Das ist recht so &OpenCurlyQuote;n Mädel — alle sind sie dünnhäutig und schwachherzig&period; Na&comma; ich werd&OpenCurlyQuote; nicht hingehn und diese Närrin beim alten Dobbins verklatschen&comma; aber &OpenCurlyQuote;s kommt auf irgend &OpenCurlyQuote;ne andere Art ja doch raus&semi; na&comma; was geht&OpenCurlyQuote;s mich an&quest; Der alte Dobbins wird fragen&comma; wer das Buch zerrissen hat&period; &OpenCurlyQuote;s wird&OpenCurlyQuote;s niemand sagen&period; Dann fragt er der Reihe nach&comma; wie er&OpenCurlyQuote;s immer tut — fragt die erste und dann so weiter&comma; und dann&comma; wenn er ans rechte Mädel kommt&comma; weiß er&OpenCurlyQuote;s&comma; ohne daß sie&OpenCurlyQuote;s sagt&period; Die Mädel verraten sich ja immer&excl; Sie haben auch gar keinen Schneid&period; Sie verrät sich gleich&period; Na&comma; &OpenCurlyQuote;s ist &OpenCurlyQuote;ne nette Patsche für Becky Thatcher&comma; &OpenCurlyQuote;s gibt kein Mittel&comma; da raus zu kommen&period;&OpenCurlyDoubleQuote; Tom dachte noch einen Augenblick darüber nach und fügte dann hinzu&colon; „Na&comma; meinetwegen&semi; &OpenCurlyQuote;s wird ihr Spaß machen&comma; mich in so &OpenCurlyQuote;ner Patsche stecken zu sehn — mag sie&OpenCurlyQuote;s auch mal ausbaden&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Tom begab sich wieder zu der Gesellschaft spektakelnder Jungen draußen&period; Bald kam der Lehrer und die Schule begann&period; Tom fühlte kein besonderes Interesse fürs Studium&period; Fortwährend schielte er auf die Mädchenseite&comma; Beckys Gesicht störte ihn&period; Alles in allem&comma; fühlte er kein Mitleid mit ihr und dann konnte er ihr ja auch nicht helfen&period; Aber er konnte auch keine rechte Schadenfreude&comma; die diesen Namen wirklich verdient hätte&comma; auftreiben&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Plötzlich wurden die Tintenkleckse in seinem Buche entdeckt&comma; und jetzt war sein Geist mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt&period; Becky fuhr aus ihrer Zerstreutheit auf und verfolgte mit großem Interesse die weitere Entwickelung&period; Sie glaubte nicht&comma; daß sich Tom herausreden könne&comma; und sie hatte recht&period; Das Leugnen schien die Sache für Tom nur schlimmer zu machen&period; Becky bemühte sich nach Kräften&comma; sich drüber zu freuen&comma; und versuchte auch&comma; zu glauben&comma; <em>daß<&sol;em> sie sich drüber freue&comma; aber sie fand&comma; daß es doch nicht so ganz gewiß sei&period; Als die Situation ganz kritisch wurde&comma; fühlte sie die Versuchung&comma; aufzuspringen und Alfred Temple anzuzeigen&comma; aber sie machte eine Anstrengung und bezwang sich&comma; zu schweigen&comma; denn&comma; sagte sie zu sich&colon; „Er wird mich mit dem Bild anzeigen&comma; ganz gewiß&period; Ich würd&OpenCurlyQuote; kein Wort sagen&comma; und könnt&OpenCurlyQuote; ich sein Leben retten&period;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Tom nahm seine Prügel in Empfang und ging auf seinen Platz zurück&comma; nicht so ganz mit gebrochenem Herzen&comma; denn er sagte sich&comma; es wäre möglich&comma; daß er selbst die Tinte über das Buch gegossen habe&comma; ohne es zu wissen — in Gedanken&semi; geleugnet hatte er nur der Form wegen und weil&OpenCurlyQuote;s mal so Sitte war&comma; und beim Leugnen geblieben war er aus Prinzip&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Eine ganze Stunde schlich herum&semi; der Lehrer saß nickend auf seinem Thron&comma; die Luft wurde nur von dem Gemurmel der Lernenden bewegt&period; Allmählich richtete sich Mr&period; Dobbins auf&comma; gähnte&comma; schaute in seinem Reiche umher und griff nach seinem Buch&comma; schien aber unentschlossen&comma; ob er es herausnehmen oder liegen lassen solle&period; Die meisten Augen leuchteten schwach auf&comma; aber zwei waren unter den Kindern&comma; welche alle seine Bewegungen mit Interesse verfolgten&period; Mr&period; Dobbins fingerte ein paar Augenblicke in Gedanken am Buche herum&comma; dann nahm er&OpenCurlyQuote;s heraus und setzte sich im Stuhl zurecht&comma; um zu lesen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Tom schielte auf Becky&period; Er fing einen suchenden&comma; hilflosen&comma; furchtsamen Blick auf&comma; der wie eine Kugel sein Herz durchbohrte&period; Sofort vergaß er seinen Streit mit ihr&period; Ruhig — etwas mußte geschehen&excl; und zwar sofort geschehen&excl; Aber seine Tatkraft wurde durch die Unmittelbarkeit der Gefahr gelähmt&period; Gott — er hatte eine Idee&excl; Er wollte hinstürzen&comma; das Buch ergreifen&comma; aus der Tür rennen und fort&excl; Aber er zauderte einen einzigen Moment&comma; und die Gelegenheit war vorbei — der Lehrer öffnete das Buch&period; Hätte Tom doch die Gelegenheit nochmals zurückrufen können&excl; Zu spät — er wußte&comma; für Becky gab&OpenCurlyQuote;s keine Rettung mehr&excl; Im nächsten Augenblick hatte der Lehrer das Verbrechen entdeckt&period; Jedes Auge senkte sich unter seinem starren Blick&period; Es lag etwas darin&comma; was auch den Unschuldigsten mit Furcht erfüllte&period; Stillschweigen herrschte&comma; daß man hätte bis wenigstens zehn zählen können&period; Der Lehrer wurde beständig zorniger&period; Nun fragte er&colon; „Wer zerriß dieses Buch&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Kein Ton&period; Man hätte eine Stecknadel fallen hören&period; Das Stillschweigen dauerte fort&period; Der Lehrer prüfte ein Gesicht nach dem anderen auf etwaiges Schuldbewußtsein hin&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„Benjamin Rogers&comma; zerrissest du dieses Buch&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Kopfschütteln&period; Neue Pause&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„Josef Harper&comma; tatest du es&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Wiederum Kopfschütteln&period; Toms Unruhe wurde größer und größer unter der langsamen Tortur dieses Vorgehens&period; Der Lehrer betrachtete prüfend die Bänke der Knaben eine Weile&comma; dann wandte er sich zu den Mädchen&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>„Amy Lawrence&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Kopfschütteln&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„Gracie Miller&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Dasselbe Zeichen&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„Susan Harper&comma; tatest du dies&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Wiederum Verneinung&period; Das nächste Mädchen war Becky Thatcher&period; Tom zitterte von Kopf bis zu Fuß vor Aufregung und dem Gefühl der Machtlosigkeit&period;<&sol;p>&NewLine;<p>„Rebekka Thatcher&OpenCurlyDoubleQuote; — &lpar;Tom schielte auf ihr Gesicht&comma; es war weiß vor Schreck&rpar; — „zerrissest du — nein&comma; sieh mir ins Gesicht&OpenCurlyDoubleQuote; — &lpar;ihre Hände erhoben sich bittend&rpar; „zerrissest du dieses Buch&quest;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Ein Gedanke schoß gleich einer Erleuchtung durch Toms Hirn&period; Er sprang auf die Füße und rief&colon; „<em>Ich<&sol;em> tat&OpenCurlyQuote;s&excl; —&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>&NewLine;<p>Die ganze Schule war starr vor Staunen über solche Kühnheit&period; Tom stand einen Moment unbeweglich&comma; um seine Lebensgeister zu sammeln&semi; und als er vorschritt&comma; seine Prügel in Empfang zu nehmen&comma; schienen ihm Überraschung&comma; Dankbarkeit&comma; Anbetung&comma; die aus den Augen der armen Becky zu ihm sprachen&comma; Lohn genug für hundert Trachten Prügel&period; Begeistert durch den Glanz seiner eigenen Tat&comma; nahm er ohne einen einzigen Schrei die saftigsten Prügel entgegen&comma; die Mr&period; Dobbins jemals ausgeteilt hatte&semi; ebenso gleichgültig empfing er die grausame Verschärfung der Strafe durch Zuerteilung von zwei Stunden Arrest — denn er wußte&comma; wer draußen auf ihn warten würde&comma; bis seine Gefangenschaft vorüber sei&period;<&sol;p>&NewLine;<p>Tom ging an diesem Abend zu Bett voll Rachegedanken gegen Alfred Temple&semi; denn voll Scham und Reue hatte Becky ihm alles gesagt&comma; ihre eigene Verräterei nicht vergessend&period; Aber selbst das Verlangen nach Rache mußte bald weicheren Gefühlen weichen&comma; und er schlief ein&comma; Beckys letzte Worte als süße Musik in seinen Ohren&colon;<&sol;p>&NewLine;<p>„Tom&comma; wie <em>konntest<&sol;em> du so edel sein&excl;&OpenCurlyDoubleQuote;<&sol;p>

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